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Les Flâneurs | Reeperbahnfestival 2013, Teil 1: Ich möchte Schönheit, Beruhigung finden

Abby.

Ich will das nicht. Ich kann auch recht gut begründen, warum nicht. Mich von einem Club in den nächsten schieben, das geht nicht. Den spektakulärsten Jutebeutel auftragen und zu hippem Indiebindieelectro abtanzen, es kommt nicht in Frage. Zwischen den Junggesellenabschieden und den Nutten die vermeintliche Flagge der Individualität schwenken, das sollen die hippen Kids erledigen. Ich kann das nicht, ich brauche Entspannung, meine Gedanken Entzerrung. Die aufregenden Seiten des Reeperbahnfestivals, den Rausch des Entdeckens, das Abenteuer des miteinander auf Entdeckungstour gehen, das hatte ich schon. Dieses Mal fehlt mir Konzentration, ich möchte Schönheit, Beruhigung finden. Aber deshalb musste ich dieses Mal erst recht zum besten Festival der schlimmsten Ecke der schönsten Stadt Deutschlands. Weil es das bietet, was beworben wird: die überfordernde Fülle und Aufregung, aber auch das, was ich suche. Ich brauche die andere Seite der Reeperbahn, dringend.


Der Eröffnungsmittwoch bietet bereits alle erdenklichen Genres, ein Großteil der Locations wird schon bespielt. Wir aber lassen das Clubfestival sein, es soll ein Theaterabend werden. Das Imperial Theater, direkt gegenüber der tanzenden Türme, vor denen ich mir nach einer Radfahrt durch den strömenden Regen mein Bändchen abhole. Der durchnässte Ticketbeleg ist kaum zu lesen. „Für 46 Minuten im strömenden Regen geht das doch noch", rechtfertige ich mich. Das hätte ich nicht gebraucht, die Dame mit den leuchtenden Augen sucht nur nach meinem Namen auf dem Ausdruck, und es ist erledigt. Nur noch Wenige drücken sich in das Zelt, die meisten sind sicher schon längst ausgestattet. Ich muss danach nur über die Straße, hinter dem Imperial Hotel liegt direkt das Theater.


Ich bin das erste Mal hier, es ist klein, die roten Sitze dem Erdboden sehr nahe, wir fallen leicht zurück, als wir Platz nehmen für das erste Konzert des Abends, des Festivals, dieser Location. Es sind vier deutsche Bands, die spielen werden, zwei davon mir sehr wohlbekannt, eine mir unglaublich nahe am Herzen. Ich werde heute das Theater nicht mehr verlassen. Ich verstecke mich nicht, ich konzentriere mich. Das macht mich schließlich aus: Ich will den Anfang jedes Sets sehen, dabei sein, wenn sich die Band warmspielt, klatschen, bis sie nicht mehr zu sehen und hinter Bühne verschwunden ist. Heute bitte nichts Halbgares, nichts Verlogenes.


Von Singer/Songwriter David Lemaitre kannte ich nur die Single „Megalomania" und erwartete recht wenig. Beliebigkeit zwischen Pop und Folk, im besten Falle etwas romantisches Gezupfe und naive Verträumtheit des Sturm-und-Drang-Alters. Erleichtert war ich, dass die Single der banalste Song des in Bolivien geborenen Musikers ist, dessen Schlagzeuger zwischendrin mit Sandtrommel Meeresrauschen simulierte und Geiger/Cellist mit Cellophanfolie knisterte. Es faltete sich ein Buch auf, dessen Worte von Zwischenmenschlichem erzählten, dessen Klang beim Umblättern aber immer wieder mit verschiedenen Einflüssen überraschte. Ein bisschen Weltmusik war dabei, nicht die Muffige, ein bisschen Lautmalerei, nicht die im Selbstzweck versunkene, und auch Fernweh. Nicht das ruhelose. Lemaitre blühte auf, wenn seine Witze zündeten und er über Freunde, den Inhalt seiner Lieder und das Meer sprach. „In Bolivien haben wir kein Meer. Wir haben nur ... Nachbarn." Vielleicht ist das umso besser, denn was man nicht in der Nähe hat, muss man verinnerlichen und so klang es an. Das war der Start ins Festival, den ich brauchte.


Abby , ja gut, modische junge Typen (denn ich habe das Wort Hipster satt bis zum geht nicht mehr), deren Gitarrist sich besonders gerne an der Front der Bühne platzhirschig hervortat, mit euphorischer Hyperaktivität und nicht im geringsten hörbaren Backingvocals, die sich in die musikalische 1×1-Backmischung einrührten. Pop, ja, Rock, klar, manches Mal auch fast technoide Beats, leichte Stimme und Verspieltheit, die sie weit bringen wird. Wohl hätten die Berliner mich aus der gerade errungenen Ruhe bringen können, aber spätestens als ich beim sich langsam einschleichenden Hin- und-Herzappeln auf meinem Sitz Philipp im Augenwinkel wild zuckend sitztanzen sah, fiel es mir auf. Abby sind eine Liveband und haben riesigen Spaß gemacht. „Klingen ein bisschen wie Slut", sagt er. Das höre ich wirklich nur ansatzweise. Besonders die leicht melancholischen Momente wie „Karma" und vor allem das traumhafte „Again" werden mir lange in Erinnerung bleiben. Ich bin so berechenbar.


Felix gibt seinen Platz auf und verlässt uns Richtung Molotow. Ich warne ihn vor: „Du wirst gleich die beste Band des Festivals verpassen!" Kurz hält er inne und überlegt, aber sein ausgedruckter Zettel mit Bandpräferenzen für den Mittwoch ist überfüllt und eine Menge Bands sind mit einem „A" für „wichtig" markiert. Me and my Drummer sind nicht dabei. Okay, da geht er hin, aber ich kann wahrscheinlich auch nicht mehr objektiv sein, denn seit ich Charlotte und Matze beim Iceland Airwaves vor einem Jahr dreimal im Laufe von drei Tagen sah, steigert sich meine Liebe für die Musik des Duos mit jedem der zahlreichen Konzerte, die ich seitdem besuchte. Das Set, gespickt mit einigen neuen Songs, bei denen Charlotte auch mal ihr Keyboard zugunsten der E-Gitarre verlässt und fast klassischen Blues spielt, spiegelte alle Seiten der Band, war also äußerst festivalgeeignet. „Heavy Weight", „Be My Friend", „Phobia", herrgott, „Phobia", besonders aber der basslastige Opener, Arbeitstitel „Berlinsong", wie Charlotte vor einigen Monaten im Heimathafen Neukölln verriet, wie auch der später folgende „Londonsong", perfektionieren das Zusammenspiel der schnell missverstandenen Brandi und ihrem Drummer Pröllochs. Manche ihrer Sprüche zwischen den Songs wirken wieder einmal harsch, sie schießt gerne über das Ziel hinaus, während er beobachtend in sich hinein schmunzelt. Wir meinen es nicht böse, dahinter steckt einfach viel Leidenschaft. Ich weiß es nicht, welchen Nerv genau die beiden bei mir treffen. Doch, halt, ich bin mir ziemlich sicher. Und auch, dass sie ihn auch in Zukunft nicht verfehlen werden.


Es ist inzwischen spät geworden, auch Philipp verlässt nun das Imperial Theater, um die letzte U-Bahn nach Barmbek zu erwischen. Ich weiß schon, warum ich mit dem Fahrrad gekommen bin, denn meinen Fehler von 2011 will ich nicht wiederholen: Die Hundreds möchte ich nicht noch einmal missen. Um 0:40 Uhr, als ihr Set eigentlich beendet sein sollte, sind letztlich die Umbauten absolviert, und auf der kleinen Bühne stehen nur noch Mikrofon und Keyboard vor dem schwarzen Vorhang. In meinem Sitz versunken verabschiede ich mit dem leidigen Smartphone Freunde in die Bettruhe, bin selbst trotz kurzer Nacht und einem termingespickten Tag kaum müde. Philipp Milner nimmt schließlich am Keyboard Platz, ein mit Loops dramatisch aufgebautes Intro leitet zu seiner Schwester Eva über, die mit Atemzügen im Spotlight und folgendem „Wait For My Raccoon" in kleinem Schwarzen und weißem Jäckchen darüber eröffnet. „Mir ist das zu gestellt, aber schau es dir ruhig an", krittelten Bekannte. Es ist schon eine Mischung aus Performance-Art, Konzert und Lichtshow, die das Geschwisterpaar bietet, aber Gestelltes konnte ich daran nicht entdecken. Viel mehr kam mir Björk in den Sinn: „You can't blame the computer if there is no soul in the music. If there is no soul, no one put it in there." Ich glaube, die Milners haben in ihrem Elektropop die Seele nicht vergessen. Womöglich war ich auch zu fasziniert von Evas ekstatischem Tanz auf der Bühne, der anmutet, als wolle sie Trauben zertreten und gleichzeitig anbrandenden Wellen ausweichen. Ihre fast noch kindlichen Züge zieren eine überraschend große Frau, die viel zu schnell groß gewachsen scheint. Die Hundreds füllen zu zweit die Bühne wie keine der vorangegangenen, teilweise fünfköpfigen Bands. Die Beats wummern kräftig aus den Boxen, Philipp versinkt im Rauch der Nebelmaschine, die beiden gehen in ihrem nun schon ein paar Jahre alten Material auf, als wäre es ihre Debütshow. Die eingestreuten neuen Stücke überraschen mit kräftigen Technopassagen und einer unverblümten Eingängigkeit, die an Momente wie ihr Überstück „Let's Write The Streets" mühelos heranreicht. Ihre Stimme wirkt reifer, kräftiger als aus der Konserve, seine vielschichtigen Klanglagen gemacht für den Liveauftritt. Ich suche schon während der letzten Töne des finalen, akustischen Touchy-Mob-Covers nach Worten, mit denen ich den Flüchtlingen am nächsten Tag das von ihnen Verpasste beschreiben soll. Es wird schwer.


Zurück in der schmuddeligen Realität ist draußen kaum mehr eine Seele unterwegs. Ein paar Leute warten auf dem Nachtbus. Wie auf dem Hinweg verwandelt sich der Niesel bald in dicke Stränge aus eiskaltem Regen, der meine immer noch nicht getrockneten Klamotten aufs Neue durchweicht. Irgendwo auf der Wandsbeker Chaussee steigt mir plötzlich aus einem der dunklen, verrammelten Läden frischer Kaffeeduft in die Nase - um 2.30 Uhr nachts. Eine Ahnung des nächsten Tages, der hoffentlich nur ein wenig an diesen ersten heranreichen wird. Auch wenn plötzlich alles abgesagt wird, wäre ich bereits zufrieden mit dem Erlebten. Ich bin zur Ruhe gekommen, es waren wertvolle Stunden.

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