Äthiopien ist ein Land, das in den deutschen Medien eher selten vorkommt. Und wenn, dann nur mit großen Schlagzeilen: Der Krieg mit dem Nachbarland Eritrea, der Friedensnobelpreis für die Schlichtung durch den Ministerpräsidenten Abiy Ahmed Ali, oder der seit einigen Wochen auch unter Abiy Ahmed zu einem Bürgerkrieg eskalierende Konflikt in der Region Tigray.
All das verweist zwar auf die gewaltsame Geschichte des Landes, auf unverarbeitete Traumata und ethnisch motivierte Konflikte. Sucht man statt einer bloßen Abfolge von Ereignissen aber historische Entwicklungslinien , dann braucht es Künstlerinnen wie Tamara Dawit und Filme wie " Finding Sally".
In der autobiografischen Dokumentation begibt sich die Regisseurin Dawit auf die Spuren ihrer Tante Selamawit - kurz Sally - , die in der Periode de s diktatorischen Kommunismus in Äthiopien als wirklich überzeugte Kommunistin in den politisch aktiven Untergrund gegangen und dort gestorben ist.
Zum ersten Mal wurde die Dokumentation " Finding Sally" nun in Deutschland gezeigt, im Rahmen des Berliner Filmfestivals Seine Premiere feierte der Film in der vergangenen Woche in Äthiopien "Afrikamera", das im diesen Jahr aufgrund der Corona-Pandemie digital stattfinden muss.
Die Grundkonstellation, der die Dokumentation folgt, ist eine ideale Versuchsanordnung. Zum einen lebt Tamara Dawit in Kanada, wo sie aufgewachsen ist. Erst in ihren zwanziger Jahren hat sie begonnen, sich intensiver mit ihrem Herkunftsland auseinanderzusetzen. Dawits Position ist daher, wie bei vielen internationalen Zuschauern wohl auch, eher die einer Außenstehenden, die kommentiert und erklärt.
Folgt in der anfangs beschriebenen Szene also die Kamera der alten Frau (Dawits Oma) und ihrer Gastgeberin (der Schwiegermutter ihrer Tante Sally), wie diese gemeinsam ins Haus gehen, wird das nicht nur für den Zuschauer als Schwellenmoment markiert: "Meine äthiopischen Verwandten öffneten mir die Tür zu der Vergangenheit des Landes", erzählt Dawit im Hintergrund. "Durch ihre Tränen habe ich begonnen, die Versprechen und das Leid zu verstehen, das Äthiopien ausmacht."
An diesem Tabu ist insbesondere die Zeit des 'Roten Terrors' schuld , wie der Film verdeutlicht. Nach massiven Protesten im ganzen Land kam es 1974 zum Sturz des Kaisers Selassie durch eine Militärjunta, die das Land unter dem Banner des Kommunismus bis zum Zusammenbruch der unterstützenden Sowjetunion diktatorisch regierte .
Die anfängliche Beteuerung ihrer Oma, dass die Vergangenheit vorbei sei, während sie offensichtlich an den Erinnerungen leidet, die diese Vergangenheit allgegenwärtig machen, hat vor dem Hintergrund dieser Bilder eine selbstversichernde Qualität, die mindestens so schmerzhaft zu s ehen ist wie die historischen Archivbilder, die Dawit immer wieder einbaut .
Vater Diplomat, Tochter WiderstandskämpferinDie Familiengeschichte ist auch deshalb so geeignet, diese Geschichte stellvertretend zu erzählen, weil der Vater von Tante Sally ein hochrangiger Diplomat und Patenkind von Kaiser Haile Selassie war. Die Tochter hingegen wurde eine überzeugte Kommunistin, die die vermeintlich kommunistisch handelnden Nachfolger des Kaisers entlarvte - und im Untergrund dagegen kämpfte.
"Finding Sally" ist somit doppeldeutig zu verstehen: Es geht zum einen darum, die Geschichte von Sally und ihrem Tod zu rekonstruieren, zum anderen aber auch um eine Verortung Sallys in der politischen Landschaft von
heute: Auf welcher Seite würde man Sally bei den aktuellen
Entwicklungen finden? "Sie würde auf jeden Fall kämpfen", ist sich
Nichte Tamara Dawit sicher.
Nur konsequent ist es also, dass Dawit ihren Film auch als Engagement betrachtet. Ziel ihrer Dokumentation sei es, sagte Dawit nach der Vorführung in der digitalen Diskussionsrunde, die im Rahmen des Festivals "Afrikamera" in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert wurde, diese dunklen Seiten der äthiopischen Geschichte zu beleuchten.
"Äthiopien scheint wie ein Land, das mit Hochgeschwindigkeit auf der Überholspur nach vorne prescht" , so die Filmemacherin, "ohne dabei aber in den Rückspiegel zu schauen, um zu sehen, was hinter einem liegt und wie wir daraus lernen können."
Das und die zufällig zu Beginn der einjährigen Drehzeit einsetzenden Demonstrationen 2018, als das ebenfalls oppressive Nachfolgeregime der Kommunisten gestürzt wurde , hätten die Dringlichkeit bestärkt, Geschichten aus genau der Zeit zu erzählen und zu teilen, so Dawi.
Fisseha Tekle, der bei Amnesty International für Äthiopien zuständig ist, sieht die fehlende Aufarbeitung ebenfalls als zentrales Problem Äthiopiens. Gerechtigkeit sei zwar ein zentrales Element der äthiopischen Gesellschaften . " Aber es wird sich nur auf die Strafverfolgung konzentriert. Es fehlt ein ganzheitlicher Ansatz für Gerechtigkeit, der auch die Opfer und Überlebenden einbezieht."
Tamara Dawits sammelt deshalb aktuell per Fundraising Geld: Sie will eine Tour durch ländlichere Gegenden Äthiopiens organisieren, so dass der Film auch zu den Menschen außerhalb der großen Städte, wo es keine Kinos gibt, kommt. Außerdem soll der Film in verschiedenen Untertitelungen verfügbar gemacht werden , so dass Angehörige unterschiedlicher äthiopischer Bevölkerungsgruppen den Film verstehen können. Und dann, so die Hoffnung, beginnen - angeregt durch die Geschichte von Sallys Familie - sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
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