Als Martin Bachmann das alte Holzhaus in der Safa Sokak aufschließt, öffnet er die Tür zu einer anderen Zeit. Einer Zeit, in der so gut wie jeder Istanbuler ein Holzhaus bewohnte. Einer Zeit, von der es heute kaum noch Relikte im Istanbuler Straßenbild zu sehen gibt. Was den meisten dieser Zeugen osmanischer Baukunst zum Verhängnis wurde, waren jedoch nicht etwa Erdbeben. Im Gegenteil: Anders als die gemauerten Gebäuden erwiesen sich die Holzhäuser den Beben durchweg gewachsen, erzählt Bauhistoriker Bachmann. Wenn auch nicht anderen Katastrophen.
Im Haus sieht es aus, als hätten es seine Bewohner Hals über Kopf verlassen. In der Küche stehen noch Töpfe und Pfannen herum. Tee- und Mokkatassen reihen sich griffbereit in einer dunklen Holzvitrine auf, dazu eine gläserne, noch halb gefüllte Zuckerschale. Läge nicht über allem eine Staubschicht könnte man denken, die Leute hätten erst gestern eilig ihre Koffer gepackt.
Das Haus ist ein Glücksfall für Bachmann (49), der am Beispiel dieses dreistöckigen Gebäudes in der Safa Sokak zeigen kann, wie man in Istanbul einst gewohnt hat. Vom Keller mit seinem Hamam und Stehklo bis zu den Erkern unterm Schindeldach erzählt es dem Kundigen viel aus seiner hundertjährigen Geschichte. Martin Bachmann, promovierter Architekt und stellvertretender Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), versteht es wie kaum ein anderer, die Spuren der Vergangenheit zu lesen.
Das Deutsche Archäologische Institut
Das Deutsche Archäologische Institut (DAI) existiert seit 1829. Die Istanbuler Abteilung wurde zum hundertjährigen Bestehen gegründet. In der Türkei erforschen deutsche Archäologen die Geschichte Kleinasiens und Thrakiens bis zur osmanischen Epoche. Zu den berühmtesten Ausgrabungsorten zählen Pergamon und Milet. Doch die Wissenschaftler widmen sich seit den sechziger Jahren auch Projekten wie den Holzhäusern Istanbuls. In der Abteilung, die im Deutschen Generalkonsulat untergebracht ist, befindet sich die größte archäologische Bibliothek der Türkei. Die 60.000 Bücher sind öffentlich zugänglich. Seit 2006 wird die Abteilung von Felix Pirson geleitet, der auch Leiter der Ausgrabungen in Pergamon ist.
Wie es sich für einen deutschen Wissenschaftler gehört, beschränkt er sich auf eine sachliche Darstellung seines Fachs. Und doch schimmert immer wieder die Begeisterung durch, wenn er die Besonderheiten der Innenarchitektur hervorhebt wie die kunstvollen Holzdecken im Erdgeschoss. „Aber die sind nur ein Vorgeschmack auf das, was uns da oben erwartet", kündet er an und nimmt mit jugendlichem Schwung die knarzende Treppe, in einen Salon, der mit Jugendstilschnitzereien an der Holzdecke auftrumpft. Ein weiteres Prunkstück ist der lindgrüne Kachelofen, auch wenn er eigentlich einen Stilbruch darstellt, denn ursprünglich heizte man mit sogenannten Mangals, offenen Metallschalen, in denen glühende Kohlen kokelten. „Eine große Gefahrenquelle, da sie häufig Ursache für Brände waren", sagt Bachmann. Allein in der großen Feuerbrunst von 1918 brannte ein Drittel aller Gebäude ab. Heute gibt es vielleicht noch ein paar hundert.
Dafür lebte man unter ihrem Dach bei Erdbeben sicherer als in steinernen Bauten. „Holzhäuser sind elastischer, sie können auch größere Erschütterungen ausgleichen. Wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb in dieser erdbebengefährdeten Stadt in Holz gebaut wurde." Ein weiterer Vorteil war ihre ebenso einfache wie billige Konstruktion. Sie lässt sich an löchrigen Stellen in den verputzten Wänden ablesen. Wo der Putz abgefallen ist, wird ein enges Holzgerüst aus kleinen Latten sichtbar, das den Wänden Halt verleiht. „Die Außenwände bekommen noch eine Bretterverschalung und das war es auch schon."
Äußerlich gibt das Haus in der Safa Sokak wenig her. Der weiße Anstrich, der einst alle Holzfassaden glänzen ließ, ist verwittert. Ein wenig schmalbrüstig und verloren steht es zwischen klotzigen und ausladenden Neubauten. „Das ist charakteristisch für die Situation", sagt Bachmann. Größere geschlossene Reihen sind heute nur noch auf den Prinzeninseln zu finden. „Dort steht auch das größte Holzhaus der Welt", sagt Bachmann. Das Orphanage auf Büyükada, 1898 von Alexandre Vallaury erbaut, sollte mit seinen 206 Zimmern den Reichen und Schönen der Metropole als Luxusdomizil samt Kasino dienen. Die Ruine thront auf dem Isa Tepesi, dem höchsten Berg der Insel. Keine Roulettekugel ist dort je über den Tisch gerollt. Sultan Hamid II hatte die Lizenz nie erteilt, und so kaufte eine reiche Bankiersfrau das Haus und schenkte es der orthodoxen Kirchengemeinde des damaligen Konstantinopels. „Bis in die sechziger Jahre diente es der griechischen Bevölkerung als Waisenhaus."
Bachmanns Arbeit gleicht einem Wettlauf gegen die Zeit. Denn selbst die repräsentativen Ufervillen und Stadthäuser wohlhabender Istanbuler Bürger ließ man verfallen, um sie schließlich abzureißen. Sie standen dem Wunsch nach modernen Wohnungen, den apartmans, im Weg, der mit der Gründung der türkischen Republik aufkam. „Die Holzhäuser galten plötzlich als rückständig, kaum jemand wollte mehr in ihnen leben."
Mit Landflüchtlingen aus Anatolien fanden sich Mitte des 20. Jahrhunderts neue Bewohner für die heruntergekommenen Häuser. Arme Leute, die sie nicht pflegen konnten. Oft drängten sich siebzig Personen in Häusern, die für eine Familie bestimmt waren. „Das niedrige Sozialprestige, das mit ihnen verbunden ist, kommt von eben diesen Bewohnern, die sie in der letzten Phase besiedelt haben."
Von der Hütte bis zum riesigen Palast
Dem bürgerlichen Wohnhaus in der Safa Sokak blieb dieses Schicksal erspart. Seine Besitzer haben das Haus erst vor wenigen Jahren verlassen. Was blieb ist der süßliche Geruch alten Holzes, verstaubte Familienbilder, mit Laken verhüllte Möbel aus einer anderen Zeit, ein Bakelittelefon, an dessen Hörer seit Jahren kein Ohr mehr gelauscht hat: Nur das ohrenbetäubende Hupen und Brummen des Istanbuler Verkehrs, das durch die Hauswände dringt, erinnert an das Hier und Jetzt.
In Holz gebaut wurde vom 17. Jahrhundert an für reich und arm. Von der Hütte bis zum Palast: „Selbst der Dolmabahce hatte einen Vorgänger aus Holz", erklärt Bachmann. Der Palast am europäischen Ufer des Bosporus diente den Sultanen seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Hauptresidenz im europäischen Stil. Der mittelalterliche Topkapi-Palast war Sultan Abdülmecid I zu altmodisch geworden.
Die Typologie der Holzhäuser hat viel mit der osmanischen Lebensweise und den damaligen gesellschaftlichen Strukturen zu tun. Dazu gehörte, dass die Bereiche von Mann und Frau getrennt waren und das Haus in Sommer- und Winterwohnung aufgeteilt war. Die tief geführten Fenster, erinnern daran, dass sich das Leben damals auf dem Boden abgespielt hat. Der Stuhl und anderes Mobiliar haben ihren Weg erst Mitte des 19. Jahrhunderts in die Türkei gefunden. Obwohl das Haus in der Safa Sokak erst um 1910 erbaut wurde, sind auch hier die Fenster noch so niedrig, dass der Blick auch im Sitzen nach außen geht . Feinmaschige Holzgitter wehren fremde Blicke ab. „Das Haus ist wirklich sehr authentisch. Jeder Nagel und jedes Brett sind hier echt."
Der Weg hinauf in die zweite Etage führt in ein Schlafzimmer. Verspielte Schnitzereien schmücken die Brüstung des Balkons. Nicht nur die Spinnweben lassen zurückschrecken. „Man darf den Balkon getrost betreten", beruhigt Bachmann, „lediglich an die Brüstung sollten Sie sich nicht lehnen." Der Blick auf die andere Straßenseite wirkt dagegen ernüchternd. Ein brache Fläche, daneben Neubauten, denen so manches Holzhaus weichen musste. „Zu häufig war einfach der Wunsch da, in diesem engen, dicht besiedelten Stadtraum lieber ein siebenstöckiges Wohnhaus mit hoher Rendite hinzustellen."
Mit den deutschen Vorstellungen von Denkmalschutz kommt Bachmann oft nicht weiter. In den vergangenen Jahren hat er viele Kontakte geknüpft. Das war nicht immer einfach, denn die Holzhäuser befinden sich meist im Privatbesitz. „Die Leute sind jedoch gern bereit, uns unsere Arbeit machen zu lassen", betont er. Schwieriger würde es, wenn es um den Erhalt geht. Häufig würden Holzhäuser abgerissen, massiv wieder aufgebaut und lediglich die Fassade nachgebildet. Wenn man so will, eine Art Holzhaus-Disney-Land. „Das ist aber nicht das, was wir anstreben." Bei dem Haus in der Safa Sokak sei er aber optimistisch, dass er die Eigentümer von einer fachgerechten Restaurierung überzeugen kann. Doch euphorisch wirkt er nicht. Zu oft haben sich solche Hoffnungen zerschlagen.