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Harninkontinenz: Wenn die Kontrolle über die Blase verlorengeht | BR.de

Viele Harninkontinenz-Betroffene haben ständig Angst, dass andere ihr Problem bemerken könnten, denn Harngeruch ist schwer zu überdecken. Urologin Ricarda M. Bauer erlebt oft, dass Patienten erst nach Jahren voller Scham den Weg zu ihr in die Praxis finden.

Weg mit dem Tabu!

Expertin:

Prof. Ricarda M. Bauer, Professorin für Urologie und Leiterin des Kontinenzzentrums der Urologischen Klinik der LMU

Für Urologen ist ungewollter Harnverlust Alltagsgeschäft und nichts, wofür man sich schämen müsste.

Der Text beruht auf einem Interview mit Ricarda M. Bauer, Professorin für Urologie und Leitung des Kontinenzzentrums der Urologischen Klinik der LMU

Harninkontinenz liegt vor, wenn man ungewollt Urin verliert. Die Menge spielt laut Internationaler Kontinenz-Gesellschaft keine Rolle: Schon der ungewollte Verlust eines einzigen Tropfens Urin, zum Beispiel beim Niesen oder Lachen, gilt per Definition als Inkontinenz. Für Ricarda M. Bauer ist besonders der individuelle Leidensdruck ausschlaggebend:

Handlungsbedarf bestehe allerspätestens dann, wenn Betroffene ihr Leben einschränken, bestimmte Aktivitäten aus Angst vor ungewolltem Harnverlust aufgeben und ihr Leben "nach der Blase" ausrichten.

Man geht von etwa zehn Millionen Betroffenen aus, wobei die Dunkelziffer wegen der Schamschwelle deutlich höher sein könnte. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer.

Kontinenz ist die Fähigkeit, die Blase willkürlich zur passenden Zeit zu leeren. Das funktioniert durch ein Zusammenspiel zwischen Hirn und Blase, dem Blasenmuskel und dem Beckenboden mit Schließmuskel.

Die Nieren produzieren Urin, der sich in der Blase sammelt. Das Füllvolumen einer gesunden Blase liegt bei 400 bis 500 Millilitern. Vom Gehirn kommt dann das Signal an den Blasenmuskel, sich zusammenzuziehen, sowie an den Beckenboden und Schließmuskel, sich zu öffnen und entspannen.

Es gibt drei Hauptformen: Die Belastungsinkontinenz (früher: Stressinkontinenz), die Dranginkontinenz und die Mischinkontinenz.

Belastungsinkontinenz: Urinverlust aufgrund von körperlicher Belastung, bei körperlichen Aktivitäten wie Husten, Niesen und Sport.

Von der Belastungsinkontinenz sind überwiegend Frauen betroffen, da die Hauptursache ein schwacher Beckenboden als Folge der Belastung während Schwangerschaften und Geburten ist. Frauen haben außerdem ein schwächeres Bindegewebe und ein breiteres Becken. Das führt dazu, dass der Beckenboden eher "durchhängt" als bei Männern. Bei Männern tritt eine Belastungsinkontinenz meist nach Operationen an der Prostata auf.

Dranginkontinenz: Bei der Dranginkontinenz spricht man auch von einer "überaktiven Blase". Betroffene verspüren wie aus dem Nichts plötzlich sehr starken Harndrang und schaffen es dann oft nicht rechtzeitig zur Toilette. Als Ursachen spielen oft Veränderungen durch den Alterungsprozess, Medikamentennebenwirkungen, Diabetes, aber auch neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose und Parkinson eine Rolle. Bei Frauen kommt außerdem der Östrogenmangel nach der Menopause als Ursache hinzu.

Mischinkontinenz: Von einer Mischinkontinenz spricht man, wenn sowohl Symptome einer Belastungs- als auch einer Dranginkontinenz vorliegen.

Frauen sind von der Harninkontinenz deutlich häufiger betroffen als Männer. Gründe dafür sind unter anderem die Belastung durch Schwangerschaft und Geburt mit einem dadurch geschwächten Bindegewebe und Beckenbodenmuskulatur. Daher wird Harninkontinenz oft als Frauenleiden betrachtet - und Männer stiefmütterlich behandelt, beklagt die Urologin Ricarda M. Bauer.

Dabei leiden Männer mindestens so sehr wie Frauen unter einer Harninkontinenz. Auch, weil das Thema Harninkontinenz bei Männern ein noch größeres Tabu ist:

Auch das Verheimlichen vor der Familie falle Frauen oft leichter: Zum einen wüssten Frauen eher, wo sie spezielle Einlagen kaufen können, zum anderen seien in vielen Haushalten typischerweise die Frauen fürs Wäsche waschen zuständig. Da falle es nicht so auf, wenn Unterhosen oder Hosen besonders häufig gewaschen werden.

Weniger Trinken = weniger Harndrang? Das ist ein Irrglaube. Je weniger man trinkt, desto mehr konzentriert sich der Urin in der Blase. Je länger der konzentrierte Urin in der Blase bleibt, desto eher steigt die Gefahr, dass es zu einer Blasenentzündung kommt, weil Keime nicht ausreichend ausgeschieden werden. Betroffene sollten täglich ca. 1,5 Liter Flüssigkeit zu sich nehmen und abends weniger trinken als tagsüber, damit die Blase in der Nacht Ruhe gibt.

Einigen Inkontinenz-Patienten hilft es, harntreibende Lebensmittel zu vermeiden: Säurehaltiges Obst wie Orangen, Limetten und Grapefruit, Gemüse wie Spargel, Wirsing, Rotkohl oder Fenchel, sowie stark mit Pfeffer, Chili und Ingwer gewürzte Speisen. Kaffee wirkt sich negativ auf die Kontinenz aus: Bereits 500 Milliliter pro Tag erhöhen das Risiko einer Dranginkontinenz um zwanzig Prozent. Auch Tee, Light-Getränke und Alkohol können sich negativ auf die Kontinenz auswirken.

Der Beckenboden ist eine Muskelschicht, die den Bauchraum und die Beckenorgane von unten abschließt. Er spielt eine wichtige Rolle beim Einhalten von Urin und Stuhl. Beckenbodentraining eignet sich sowohl zur Prävention als auch zur Behandlung einer Belastungsinkontinenz. Ob online, in Sportvereinen, Volkshochschulen oder Yogastudios: Es gibt ein vielfältiges Angebot an Kursen. Wer über einen längeren Zeitraum keinen Fortschritt trotz Beckenbodentraining feststellen kann, sollte einen spezialisierten Physiotherapeuten aufsuchen, denn man kann auch einiges falsch machen:

Ricarda M. Bauer empfiehlt, eher mit reduzierter Kraft zu trainieren, da es sich um eine dünne Muskelschicht handelt. Um den Beckenboden überhaupt zu lokalisieren und anzusteuern, empfiehlt es sich, sich vorzustellen, den Harnstrahl während des Wasserlassens zu unterbrechen. Achtung: Als Übung eignet sich diese Methode aber nicht, da der Blasenmuskel dabei falsch belastet wird.

Es ist nie zu spät, mit Beckenbodentraining zu beginnen. Idealerweise werden die Übungen in den Alltag eingebunden, zum Beispiel direkt nach dem Aufstehen oder vor dem Schlafengehen. Bei Inkontinenzproblemen sollte möglichst jeden Tag trainiert werden. Zur Vorbeugung sind normalerweise ein- bis zweimal pro Woche fünf bis zehn Minuten Training ausreichend.

Vor jeder Behandlung steht die genaue Diagnostik durch eine Urologin oder Gynäkologin. Diese muss herausfinden, welche Form der Inkontinenz vorliegt. Operationen sollten nur erfolgen, wenn das Beckenbodentraining und die medikamentöse Therapie keine Besserung gebracht haben.

Zur Behandlung einer Belastungsinkontinenz kann das Medikament Duloxetin verwendet werden, das eigentlich ein Antidepressivum ist. Das Mittel ist nur für den Einsatz bei Frauen zugelassen. Für Männer kann es nur im Rahmen eines off-label Gebrauchs verwendet werden. Der Wirkstoff verbessert die Kontraktionsfähigkeit des Schließmuskels. Ricarda M. Bauer warnt allerdings vor den starken Nebenwirkungen.

Anticholinergika oder Beta-3-Agonisten werden bei einer überaktiven Blase eingesetzt, um diese zu beruhigen.

TVT: Das "Tension-Free Vaginal Tape", eine Art Schlinge aus Polypropylen, wird unter die Harnröhre gelegt, um diese zu stabilisieren. Es ist die häufigste operative Behandlungsform in Deutschland.

Laserbehandlung: Bei dieser neuen Form der Behandlung wird ein Laser in die Scheide eingeführt, der Laser soll die gesamte Muskulatur in diesem Bereich stärken. Ricarda M. Bauer rät zu Vorsicht - man dürfe von dieser Behandlung keine Wunder erwarten.

Künstlicher Schließmuskel: Der künstliche Schließmuskel wird hauptsächlich bei Männern mit sehr starker Belastungsinkontinenz. eingesetzt. Er besteht aus einer mit einer Flüssigkeit gefüllten Manschette, einer Pumpe und einem Ballon. Die drei Teile sind durch dünne Schläuche miteinander verbunden. Die Manschette wird um die Harnröhre herum gelegt, sodass er diese verschließt. Die Pumpe wird in den Hodensack eingesetzt. Im Unterbauch liegt ein kleiner Ballon, der mit Pumpe und Manschette verbunden ist. Verspürt der Patient Harndrang, drückt er auf die Pumpe. Dadurch entleert sich die Flüssigkeit der Manschette in den Ballon und die Harnröhre wird geöffnet. Nach ein paar Minuten füllt sich die Manschette wieder mit der Flüssigkeit und verschließt so wieder die Harnröhre.

Sakrale Neuromodulation: Die sakrale Neuromodulation ist eine selten durchgeführte Behandlungsoption bei Dranginkontinenz. Als sogenannter Blasenschrittmacher wird eine Elektrode im Bereich des unteren Rückens an den Sakralnerven implantiert. Die Elektrode gibt sanfte elektrische Impulse an die Sakralnerven ab, die die Funktion der Blase kontrollieren.

Botox: Bekannt zur Behandlung von Falten, kann Botulinumtoxin auch bei Dranginkontinenz und überaktiver Blase helfen. Das Medikament wird unter lokaler Betäubung direkt in die Blasenwand gespritzt. Die Muskeln der Blasenwand werden damit beruhigt und der Harndrang und die Dranginkontinenz verbessern sich. Die Wirkung hält zwischen sechs und neun Monaten an.

Einlagen: Viele Patientinnen behelfen sich mit Menstruationsbinden. Allerdings sind diese Binden nicht für die Menge an Flüssigkeit gedacht, die bei Harnverlust abgehen kann.

Die Einlagen müssen regelmäßig gewechselt werden, damit kein feuchtes Milieu entsteht. Das begünstigt Infektionen und Blasenentzündungen, die die Inkontinenz verschlimmern können.

Kondomurinal: Eine Art Kondom, von dem aus über einen kleinen Schlauch der Urin in einen am Bein fixierten Beutel geleitet wird. Für Männer mit starker Inkontinenz.

Penisklemme: Für kurze Zeiträume eignet sich für Männer auch eine Penisklemme, die die Harnröhre abklemmt und damit den Harnverlust verhindert.

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