Ich rieche Moschus, als ich das Kreuz bei der AfD mache. Neben mir schwankt eine Frau auf Pailletten-High-Heels und schielt aufs Papier. Die Spitzen ihrer perfekten Locken berühren meine Schulter. Sie nickt zufrieden, auch wenn sie nicht kontrollieren kann, ob ich ihre Stimme nicht heimlich zur kommunistischen Partei geschleust habe. Sie vertraut mir blind. Die Frau hat ihre Brille vergessen und kann nichts, "also Schätzchen, einfach gar nichts" lesen.
Ich bin Wahlhelferin und berechtigt, körperlich beeinträchtigten Menschen zu helfen. So stehen wir zwei über den Schultisch gebeugt, vor uns fünf Zettel. Hinter unseren Rücken grinst Katy Perry neben Rapper Cartell, "der größte, verrückte Türke", der "ein Auto mit 100 000 tausend Wert" hat, so steht es in Krakelschrift auf bunten Referatsblättern. "Sie müssen wissen, ich bin Unternehmerin", sagt die Frau. "Ich kommentiere das nicht", antworte ich. Es war mir selten so egal wie heute, was die Menschen wählen. Ich bin Wahlvorsteherin und nach zwölf Stunden lösen sich Parteiprogramme in Buchstaben, Zahlen, Listen auf. Der gefürchtete Linksrutsch, der Klimawandel, die grüne Revolution - das einzige Ergebnis, das mich interessiert, ist, ob am Ende Stimmzettel und Wählerverzeichnis übereinstimmen.
Im März 2021 war Impfen der heißeste Scheiß und Berlin versprach allen Wahlhelfern im "Superwahl 2021" eine Spritze. Ich meldete mich, da ich wegen später Geburt und Systemirrelevanz Prioritätsgruppe 80 000 bin. Dann wurde ich älter, wichtiger und geimpfter, und eines sorgenlosen Nachmittags rief plötzlich eine Berliner Nummer an. Juten Tag. Eine Absage hätte sich wie Verrat an der Demokratie angefühlt. So schleppte ich am Wahlsonntag um sechs Uhr morgens eine fünf Kilo schwere Ikeatasche nach Berlin-Buckow und fädelte mit anderen Opportunisten mit ähnlich unnachgiebigem Rückgrat die Deutschlandflagge über vergessene Adventssterne.
Im Flur der Schule bildet sich eine Schlange bis zum Klassenzimmer der 5b. Neben Herbstcollagen mit Apfelschnecke seufzen, stöhnen, schnauben sie. Der "Dit-kann-doch-nich-wahr-sein"-Chor hat oft genug geprobt. Berlin ist verlässlich schlecht auf Ausnahmesituationen vorbereitet. Im "Superwahljahr" mit Bezirksvollversammlung, Abgeordnetenhaus, Volksentscheid und Bundestagswahl fehlen in Wahllokalen plötzlich Stimmzettel. Menschen warten Stunden, Lokale schließen erst um 20 Uhr. Mein Handy klingelt. Die Zentrale der Macht ist dran, das Bezirksamt Neukölln, und fragt, was jetzt mit den Stimmzetteln sei. "Nichts", sage ich, weil in unserem Wahllokal nichts fehlt. "Komisch", sagt die Stimme in der Zentrale und legt auf.
Ein Mann mit Windjacke hetzt zur Türschwelle: "Mann, jetzt seid doch mal pragmatisch! Lasst doch mal mehr Leute rein!" Mit reinster Verwaltungsseele höre ich mich sagen: "Ich hab' die Regeln nicht gemacht." Als der Mann schließlich zur Kabine schreitet, lässt er die Mine des Kugelschreibers schnalzen, und macht mit FDP-Tempo seine Kreuze.
Irgendwann dringt ein Stöhnen aus der Kabine, als träufle man jemandem Alkohol auf eine Fleischwunde. Ich sehe Stahlkappenschuhe tippeln. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kommt ein großer Mann aus der Kabine, blaue Arbeiterjacke, wirft fünf Zettel in die Urne und haut ab. Eine Frau fragt den Schriftführer, ob man ihre demente Mutter nicht aus dem Wählerverzeichnis nehmen könnte. Die würde "bestimmt nur Stuss wählen". Der Schriftführer weiß nicht, wie das gehen soll. "Naja", überlegt die Frau. "Also Exitus wäre eine Möglichkeit."
Als wir am Abend die Urne auskippen, entfaltet sich die volle Wahrheit über Berlin-Buckow, die großen Kämpfe und die kleinen Tragödien. Jemand hat erst sein Kreuz bei der Tierschutzpartei gemacht, dann alles durchgestrichen und ein Kreuz bei der AfD gemacht. Ich übermittle alle Ergebnisse an die Machtzentrale, "Feld D1: 112", gebe ich die Stimmzahlen, die große Hoffnung von Olaf Scholz, das große Grauen Armin Laschets durch. Die AfD schneidet in unserem Wahllokal sehr gut ab. Team Todenhöfer und die Grauen Panther auch. Wir jubeln, als wir Zettel und Verzeichnis abgleichen. Die Zahlen stimmen. Es ist ein gutes Ergebnis für die Demokratie.
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