Marie-Luise Braun

Journalistin, Dozentin, Autorin, Moderatorin, Reppenstedt/Lüneburg

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Klimawandel in Südtirol: Eisige Konflikte

Die Weißkugelhütte in Langtaufers wird wegen des Gletscherrückzugs verlegt. Mehr als zehn Jahre haben Menschen aus dem Tal über diese Frage gestritten. Foto: Marie-Luise Braun

Im Langtauferer Tal wird eine Wanderhütte verlegt, weil der Gletscher sich zurückzieht. Warum klimapolitische Entscheidungen oft zu lange dauern.

Über eine Länge von zehn Kilometern zieht sich das Langtauferer Tal durch die Ötztaler Alpen. Ganz am Ende, kurz bevor nur noch landwirtschaftliche Fahrzeuge weiterfahren dürfen, wohnt der Bergführer Josef Plangger. Hier, im Weiler Melag, starten die Wanderwege, die hinaufführen auf die Weißkugelhütte. Von dort geht es weiter auf die Gipfel von Weißkugel, Weißseespitze, die Bärenbartkogel und weitere Ziele von Alpinisten in den Ötztaler Alpen.

Die Hütte war Ausgangspunkt einer harten Debatte im Tal, die mehr als zehn Jahre dauerte. Eine Mitspielerin: die Klimakrise. Es standen sich gegenüber: verschiedene Ansichten über die Entwicklung des Tales und unterschiedliche Wirtschaftsinteressen.

Seit 30 Jahren führt Josef Plangger Menschen durch die Alpen, am liebsten in seinem Heimattal. Das war auch der Grund, warum er sich zunächst 2010 in einem Brief an den Alpenverein Südtirol (AVS) und zwei Jahre später bei der Gemeinde für die Verlegung eines Neubaus der Weißkugelhütte eingesetzt hat. Weiter oben sollte diese neue Hütte liegen und weiter hinten im Tal, etwa einen Kilometer von der alten Weißkugelhütte entfernt, auf der gegenüberliegenden Talseite, so seine Vorstellung. Die neue Hütte wäre damit wieder näher an den Gletschern, sodass Alpinistinnen und Alpinisten ihre Touren wieder direkt vor der Hütte starten könnten. Die Gletscher haben sich in den vergangenen Jahrzehnten durch die Klimakrise einige hundert Meter von der alten Weißkugelhütte zurückgezogen.

Mit seiner Idee löste Plangger eine Welle der Diskussion aus, mit der er nicht gerechnet hatte. Sie führte bis zu persönlichen Diffamierungen gegen ihn, Leserbriefen in der Lokalzeitung samt Beschimpfungen, die an Verleumdung grenzen und die Debatte über das Tal mit seinen etwa 400 Einwohnerinnen und Einwohnern hinaustrugen.

Plangger liest einen Leserbrief vor, in dem ihm - schreiben wir es vorsichtig - Eigennutz bei der Idee, die Hütte zu verlegen, und auch einiges an Charakterschwäche unterstellt wird. Selbst im persönlichen Gespräch sind solche Vorwürfe heftig. Der selbstständige Bergführer musste sie öffentlich ertragen. Er legt den Brief auf seinen Wohnzimmertisch und seufzt. Zwischendurch habe er mehrfach aufgeben wollen, sagt er.

Dabei klang zunächst alles so gut. Vor zwölf Jahren hatte das Land Südtirol beschlossen, drei Schutzhütten abzureißen und neu zu errichten: Die Edelrauthütte, Schwarzensteinhütte und Weißkugelhütte waren arg in die Jahre gekommen. Eine Sanierung lohnte sich nicht mehr. Ein Architekturwettbewerb wurde ausgeschrieben, Siegerentwürfe gekürt. Wenige Jahre später waren die anderen beiden Hütten gebaut und in Betrieb. Die Weißkugelhütte aber steht immer noch in ihrer alten Version. Für die neue gibt es noch nicht einmal eine Ausschreibung. Inzwischen haben auch die Pächter zweimal gewechselt.

„Dass das alles so lang gedauert hat, daran bin ich mit schuld", sagt Josef Plangger. Der 58-Jährige schaltet den Laptop ein, holt einen dicken Ordner aus dem Nachbarzimmer und legt ihn vor sich auf den Tisch. Hier wie dort zeigt er Fotos der Weißkugelhütte und der Gipfel um sie herum. In manchen weisen rote Pfeile auf Stellen, an denen er den Bau der neuen Schutzhütte für möglich gehalten hatte. Immer wieder führt er aus, welche Debatten er habe führen müssen und was über ihn geredet worden sei. In einer Talgemeinschaft, in der jeder jeden kennt. Und die weiter zusammenleben wird.

Im Jahr 2003, während des heißen Sommers, habe er sich erstmals ernsthaft Gedanken über den Rückgang der Gletscher am Ende des Langtauferer Tales und die Zukunft der Weißkugelhütte gemacht, erzählt der Bergführer. Im April 2010 schließlich sei er auf die Idee gekommen, dass die Weißkugelhütte deshalb besser verlegt werden solle. Und auch zwölf weitere Gründe hat er hierfür in einem Papier aufgelistet. Zum Beispiel: Die neue Hütte könne auch im Winter bewirtschaftet werden, während das in der alten nur im Sommer möglich ist.

Der Zugang zu Gipfeln sei einfacher, schneller oder überhaupt erst möglich; der Aufstieg zur neuen Hütte sei bequemer. Und letztlich: Von der neuen Hütte hätten Gäste endlich einen Blick ins Langtauferer Tal. Insgesamt sei der Standort viel attraktiver für Alpinisten. „Es würde eine große alpinistische Aufwertung für die ganze Region mit sich bringen und mehr Gäste anziehen", meint Plangger.

2010 habe er mit Christian Hohenegger - dem damaligen Pächter der Hütte - über den Standortwechsel und die oben beschriebenen Vorteile gesprochen. Auch Christian habe das für eine gute Idee gehalten. Damals. Doch zwei Jahre später habe der Hüttenwirt eine andere Ansicht geäußert, so Plangger.

Über die Entwicklungen im Tal reden möchte Christian Hohenegger schon. Aber von einem Streit erzählt er nichts. Hohenegger verweist sogar darauf, dass sich Plangger mit den Details zur Hütte viel besser auskennen würde als er. Und das, obwohl Hohenegger über Jahrzehnte die Hütte betrieben hat. Erst 2017 hat er aufgehört, seither vermieten er und seine Frau Irmhild Ferienwohnungen im Tal. Doch über die Schönheit des Langtauferer Tals entspinnt sich mit Christian Hohenegger ein Gespräch, das Hintergründe zu dem Streit aufscheinen lässt, den auch andere aus dem Tal bestätigen und deutlicher skizzieren.

Ursprünglich sollten die Kinder der Hoheneggers nach dem Ausscheiden ihrer Eltern die Weißkugelhütte übernehmen und betreiben. Die Bewirtschaftung der Hütte ist recht lukrativ. In wenigen Monaten - von Juli bis Oktober - erzielen die Pächter ein Jahreseinkommen. Aber die Arbeit ist anstrengend und abgeschieden. Außerdem lockt die Welt abseits der Berge mit dem Versprechen vom leichteren Leben. So haben die beiden Kinder einen anderen Beruf gewählt.

Wenn aber die Wirtschaftskraft nicht in der Familie verbleibt, sollte immerhin das Tal profitieren, so Hoheneggers Vorstellung, mit der er manche aus dem Tal auf seiner Seite hatte. Bei der neuen Hütte wäre die Vergabe der Pacht über ein neues Verfahren gelaufen, in dem nicht zwangsläufig jemand aus dem Tal Pächter geworden wäre.

Der Standort der neuen Hütte - den inzwischen alle „Bergl" nennen - gehörte bislang der Fraktion Langtaufers, also dem Tal. Zum Bau der neuen Hütte am „Bergl" müsste das entsprechende Stück Land oben von der Fraktion Langtaufers an die Provinz Südtirol verkauft werden. Das behagte zu dem Zeitpunkt einigen nicht. Denn der Verkauf würde den Einfluss darauf minimieren, wer die neue Hütte bewirtschaften wird. Dieses Recht hat sich inzwischen auch an der alten Hütte geändert.

Die Debatte zwischen den beiden Lagern im Tal - die einen für die Verlegung, die anderen für den weiteren Betrieb am alten Standort - verschärfte sich. Die einen schauten auf die Wirtschaftskraft der alten Hütte, die wenigen aus dem Tal Gewinn bringt. Die anderen wollten die Möglichkeit, eine Schutzhütte mehr als nur vier Monate im Jahr zu betreiben und mehr Gäste anzulocken.

Vermittelt hat in der Zeit niemand. Volkmar Mair, Direktor des Amtes für Geologie und Baustoffprüfung des Landes Südtirol, sagt, dass die Landesverwaltung sich bewusst nicht eingeschaltet und gesagt habe: „Wenn ihr wisst, was ihr wollt, werden wir aktiv." Dabei hätte eine Mediation das Verfahren beschleunigen können - und viel Streit verhindern, lässt Victoria Luh durchblicken. Die Mitarbeiterin des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit am Helmholtz-Zentrum Potsdam forscht zu Dynamiken, die in Klimadebatten wie der in Langtaufers stecken.

Als „den klassischen Konflikt eines Transformationsprozesses" bezeichnet sie das, was zur Weißkugelhütte im Tal vor sich ging. Dabei sei der Konflikt selbst nicht das Problem, denn er zeige nur, dass eine Auseinandersetzung stattfindet. „Aber es ist wichtig, einen konstruktiven Umgang damit zu finden, um eine Eskalation zu vermeiden", sagt sie. Zumal angesichts des Fortschreitens der Klimakrise schnelle Entscheidungen gefragt sind.

Mediatoren für konstruktive Auseinandersetzung

Sofern eine Entscheidung vom Land getroffen werde, ohne sie mit den Menschen vor Ort abzustimmen, sei da „nur ein Deckel auf dem Konflikt", der darunter weiter schwele und an anderer Stelle erneut ausbrechen könne, so Luh. Für eine Klärung und einen Abschluss sei ein Mediator oder eine Mediatorin - als unabhängige, unbefangene Person von außen - notwendig, die den Prozess begleite. Dann gelte es, ein Problembewusstsein zu schaffen, die Beteiligten zu motivieren, sich konstruktiv auseinanderzusetzen, die Fakten zu klären und alle Perspektiven gleichwertig zu berücksichtigen. Mit offenem Ende hinsichtlich der Entscheidung, betont die Forscherin.

Letztlich einigten sich die Menschen in Langtaufers dann doch. Nach langem Ringen und ohne Mediation entschieden sie sich für den Neubau der Hütte am „Bergl". In Bozen wurde Anfang dieses Jahres der Vertrag unterzeichnet. Das Gelände, auf dem die neue Hütte entstehen soll, hat die Fraktion Langtaufers der Landesverwaltung verkauft. Die alte Hütte ist in den Besitz der Fraktion übergegangen und wird als Sommerhütte vorläufig weiter bewirtschaftet. Der Vertrag des neuen Wirtes läuft über fünf Jahre.

Die Entscheidung passt zur Klimaschutzstrategie des Landes Südtirol, mit dem es allerdings in Europa kein Vorreiter ist: Ihren Klimaschutzplan 2040 hat die autonome Provinz erst im Sommer 2022 verabschiedet. Aktuell sucht das Land nach Umsetzungsplänen vor Ort, so auch im Langtauferer Tal.

Hierfür gebe es die Überlegung, ein Biosphärenreservat einzurichten, erläutert Maria Magdalena Hochgruber-Kuenzer. „Natürlich müssen die Bewohner vor Ort zustimmen", sagt die bisherige Landesrätin für Raumentwicklung, Landschaft und Denkmalpflege der Provinz Bozen-Südtirol. Und es gelte aufzuklären, was ein solches Biosphärenreservat eigentlich ist: „Vor allem geht es darum zu zeigen, dass die Menschen dadurch wirtschaftlich keinen Nachteil haben. Die Angst muss genommen werden."

Biosphärenreservate sind von der Unesco initiierte Modellregionen, in der es nicht nur um Naturschutz geht oder nur um den Erhalt einer Landschaft. In diesen Gebieten wird auch der Mensch als Bestandteil betrachtet. Übergeordnete Ziele sind der Erhalt der biologischen Vielfalt und der Funktionen des Ökosystems, aber eben auch die Bewirtschaftung und Weiterentwicklung einer besonderen Kulturlandschaft. Bürgerbeteiligung ist ein zentraler Kern der Umsetzung dieses Programms. In dieses müsste dann auch die Bewirtschaftung der Weißkugelhütte passen.

Aber es gibt im Tal noch keine Einigung, wie es sich für die Zukunft aufstellen möchte. Ein Knackpunkt zeigt sich im Gespräch mit Christian Hohenegger: „Mir fehlt die Ortsgemeinschaft", sagt er. Gemeinsam könne man viel machen im Tal, aber es gebe keine richtige Initiative, um in die Zukunft zu denken, gemeinsam zu planen und zu handeln, sagt der 72-Jährige. Auch bei den jungen Leuten sehe er das nicht. „Die wollen alle weg aus dem Tal. Die werden sich noch wundern, wenn sie später wieder zurückwollen", ergänzt Christian Hohenegger.

Die aktuellen Aktivitäten, das Tal zukunftsfähig aufzustellen, wirken wie Flickwerk. Denn hier werden seit ein paar Jahren Wallanlagen errichtet, die die Höfe und Weiler vor Lawinen und Muren schützen sollen. Ihr Bau war beschlossen worden, nachdem am 22. Januar 2018 nach tagelangen Schneefällen eine gewaltige Lawine fast bis zum Ort Grub herunterkam. Die Schneemassen prallten auf ein Haus aus Stroh, das den Aufpralldruck von 50 Tonnen auf der Fassadenbreite abfederte. Ein Wohnhaus weiter unten im Ort war eingestürzt. Verletzt worden war niemand, die Familie hatte sich in einem anderen Teil des Hauses aufgehalten.

Kurze Zeit später errichtete die Provinz Bozen den ersten Schutzwall im Tal, der mögliche Lawinen weg von den Häusern Grubs lenkt, rauf auf freie Wiesen. Aktuell baut sie eine zweite Anlage mit mehreren Wällen beim Ort Kappl etwas weiter oben Aber reicht das? Ende August dieses Jahres haben sich die Auswirkungen der Klimakrise besonders deutlich gezeigt. Nach tagelangem Regen stiegen die Flüsse über die Ufer, überfluteten Straßen und Gleise, rissen Abhänge, Bäume und Geröll mit sich. In den Schweizer Kantonen Tessin und Graubünden sind durch schwere Unwetter fast 300 Liter Regen in 24 Stunden gefallen. Der Rheinpegel war am Zusammenfluss von Vorderrhein und Hinterrhein in Graubünden in wenigen Stunden um mehr als vier Meter gestiegen.

Besonders deutlich ist die durch die Klima­krise bedingte Erwärmung durch das Abschmelzen der Gletscher zu bemerken. Studien belegen, dass sich in der Höhe der Alpen die Klimakrise schneller auswirkt als anderswo. Hier oben wurde das 1,5-Grad-Ziel bereits gerissen, das weltweit laut Pariser Klimaschutzabkommen eingehalten werden sollte.

In den Alpen steigen die Temperaturen durch den menschengemachten Klimawandel doppelt so schnell an wie im Durchschnitt. Darauf verweisen beispielsweise das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und die Internationale Alpenschutzkommission Cipra. Das lässt nicht nur die Gletscher schmelzen, auch das Ökosystem gerät aus dem Takt. Die steigenden Temperaturen haben Auswirkungen auf die Artenvielfalt; wärmeliebende Arten breiten sich nach oben aus - neue Konkurrenz um Lebensraum entsteht. Um der Klimakrise zu begegnen, sind aber funktionierende Ökosysteme wichtig. Dort wo Permafrostböden auftauen, ist die Gefahr von Muren, Lawinen aus Schlamm und Geröll, groß.

Weltweit sind die Gebirgsgletscher mit wenigen Ausnahmen auf dem Rückzug. Sie sind wichtig als Wasserspeicher, die im Sommer Wasser abgeben. Sie dienen der Versorgung mit Trinkwasser, aber auch der mit Energie, beispielsweise über Stauseen. „In den Alpen dürfte schon in dreißig Jahren die Hälfte der Gletschermasse verschwunden sein", heißt es in einem Bericht des PIK und: „Bei ungebremsten Emissionen würden die Alpengletscher bis Ende des Jahrhunderts fast komplett verschwinden."

Es gilt also, entsprechende Maßnahmen umzusetzen. Auch hierfür wäre eine Mediation hilfreich, vor allem, um die Einigungsprozesse zu beschleunigen. Denn Zeit gibt es beim Umgang mit den Folgen der Klimakrise laut aktuellen Studien nicht. In Langtaufers hat die Einigung mehr als zehn Jahre gedauert. Und da ging es nur um eine Schutzhütte. Die Entwicklung eines Gesamtkonzepts für das Tal als Teil des Klimaschutzplanes 2040 steht noch aus. Und da sind intensivere Debatten zu erwarten.

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