Italien ist nur Berlusconi, Eurokrise und Mafia? Junge Italiener kämpfen gegen dieses Image und die vielen Probleme. Können sie ihr Land retten?
Text: Margherita Bettoni & Fiona Weber-Steinhaus
Bunga Bunga. Dies ist eine Geschichte über das politische System Italiens, aber das Doppel-B-Wort taucht hier nur dieses eine Mal auf. Garantiert! Man braucht das Wort ja nicht mehr. Es ist alt und egal. Während Italien noch vor wenigen Jahren vor allem als Land verschrien war, in dem Premierminister Silvio Berlusconi wilde Sexpartys mit Teenagern feierte und der Altersdurchschnitt im Parlament bei 56 Jahren lag, trifft man heute zwischen Mailand und Neapel überall junge Menschen, die versuchen, ihr Land zu verändern.
Klar, die Eurokrise dauert an, in den vergangenen sieben Jahren fielen über 800 000 Arbeitsplätze weg, rund 43 Prozent der Italiener unter 25 haben keinen Job. Es gäbe wirklich genügend Gründe für junge Italiener, deprimiert zu Hause zu bleiben. "Aber die Jugend ist durch die Krise wachgerüttelt worden", sagt Alessandro Rosina, Mailänder Professor für Demografie, der für eine jährliche Studie jeweils 5000 junge Männer und Frauen befragt. 95 Prozent der Befragten, so Rosina, sehen sich als Bereicherung für ihr Land. Noch 2009 hatte Rosina resigniert geschrieben: "Italien ist kein Land für Jugendliche." Was hat sich seitdem verändert?
Wissenschaftler und Schriftsteller, Journalisten und Start-up-Gründer kämpfen um ihre Chance und die Zukunft. Der Generationswechsel zieht sich durch bis an die Spitze der Regierung. Als der 40-jährige Matteo Renzi im Februar 2014 als Premierminister antrat, stellte Italien damit den jüngsten Regierungschef derEuropäischen Union. Das Renzi-Kabinett hat mit 48 Jahren das niedrigste Durchschnittsalter seit Gründung der Republik. Italien erscheint im Jahr 2015 als spannendes Versuchslabor, in dem Fragen geklärt werden, die auch für andere Länder von Bedeutung sind: Wie schafft es eigentlich eine Generation, für die wirtschaftliche Unsicherheit zur Normalität geworden ist, sich zu motivieren? Oder sollte man die Krise nicht sogar als Chance sehen? Weil dadurch alte Strukturen ins Wanken geraten? Und: Machen junge Menschen eigentlich automatisch eine bessere, nachhaltigere Politik, weil die Zukunft für sie kein Wort ist, sondern ein Lebensraum?
Eine Reise durch die Toskana und Umbrien, nach Neapel, Mailand und Rom, durch ein sich erneuerndes Land.
SPRECHSTUNDE: Die 28-jährige Bürgermeisterin Giulia Mugnai empfängt mittwoch- und freitagmorgens die Bürger ihrer Gemeinde im Rathaus.
Wenn Giulia Mugnai die zweihundert Meter vom Rathaus der Stadt Figline e Incisa Valdarno zur Piazza Brunone Bianchi läuft, dann braucht sie manchmal fünf Minuten, manchmal eine Stunde. Die Menschen grüßen, erzählen, wie das Geschäft so läuft. "Ich hätte nie gedacht, dass Müll so ein wichtiges Thema ist", sagt die 28-Jährige und lacht. Unter den Arkaden spielen weißhaarige Männer mit Schiebermützen Karten. Es ist ruhig, fast verschlafen.
Doch vor anderthalb Jahren fand in der 23 000-Einwohner-Gemeinde bei Florenz eine Revolution statt. Giulia Mugnai wurde zur Bürgermeisterin gewählt. 57 Prozent stimmten für sie eine Sozialdemokratin mit kirschroten Locken, die immer noch bei ihren Eltern wohnt. Im Stadtrat von Figline sind drei der sechs Lokalpolitiker unter dreißig.
Mugnai und ihre Kollegen widerlegen damit die abfällige Theorie des Establishments, dass die Jugend Italiens ihre Probleme selbst zu verantworten habe: Im Jahr 2012 sagte die damalige Sozialministerin Elsa Fornero, junge Menschen seien bei derJobwahl schlicht zu wählerisch. Und der ehemalige Wirtschaftsminister Tommaso Padoa-Schioppa bezeichnete die Jugend hämisch als "bamboccioni", verhätschelte Babys, die sich noch als Dreißigjährige in ihrem Elternhaus verstecken und sich weigern, Verantwortung zu übernehmen oder eine Familie zu gründen.
Sagt man Mugnai, dass sie die Definition einer "bambocciona" ja auch erfülle, zuckt sie mit den Schultern. Das seien blöde Klischees. "Es geht doch nicht darum, ob jemand zu Hause wohnt", sagt sie. Die wirklich schlimmen Probleme hätten doch die 2,5 Millionen jungen Leute, die weder eine Ausbildung machen noch studieren. "Daran müssen wir arbeiten." In ihrem Alltag hilft Mugnai auch die "arte di arrangiarsi", die sprichwörtliche italienische Kunst, sich in schwierigen Zeiten durchzulavieren. Die Gemeinde hat beispielsweise kein Geld, um neue Computer für das Rathaus anzuschaffen also arbeitet Mugnai eben mit ihrem eigenen alten grasgrünen Laptop.
Als sie vor sieben Jahren in die Partei eintrat, wollte Mugnai dafür kämpfen, dass alle Menschen die gleichen Chancen im Leben haben. Als Bürgermeisterin ist sie jedoch für große politische Reformen nicht zuständig. Es geht in ihrem Arbeitsalltag um Wasserkosten, neue Parkplätze auf der Piazza oder die Sauberkeit des Friedhofs. Einmal wollte Mugnai den Haushaltsüberschuss der Gemeinde pragmatisch dazu nutzen, ärmere Familien zu unterstützen. Und musste sofort feststellen, dass eine derartige Sozialreform "von unten" nicht vorgesehen war ihre Befugnisse reichten dafür nicht aus. "Natürlich scheitere ich jeden Tag an meinen eigenen Ansprüchen", sagt Mugnai. Aber wer etwas verändern wolle, müsse eben klein anfangen. Und ab und zu die Grenzen austesten.
KRISENFEST: Der Schriftsteller Rosario Esposito la Rossa meint, die aktuelle Krise habe Neapel nicht berührt: "Die ist hier seit 1861."
Im Stadtteil Scampia muss man kein Held sein, um die Welt zu verändern. Es reicht, ein normales Leben zu führen, obwohl es genug Gründe gäbe, abzuhauen. Scampia, das sind für viele die "Vele" vier Wohnblöcke, vierzehn Stockwerke, Camorragebiet.Der Mafiaclan Kampaniens gilt hier als zuverlässigster Arbeitgeber, ein Viertel derFamilien lebt unterhalb der Armutsgrenze von rund 1000 Euro. Seitdem der True-Crime-Bestseller "Gomorrha" von Roberto Saviano in den Wohntürmen verfilmt wurde, steht das Viertel auch außerhalb Italiens für Verderb und Verfall, Kokain und Camorra.
"Scampia ist mehr als diese verdammten Wohnblöcke", knurrt Rosario Esposito La Rossa, 26 Jahre, ein blonder Typ, der Jogginghosen trägt und einen dicken Schal. "Man muss sich nur ein paar Schritte davon entfernen." Und wirklich: Hier wachsen Palmen, Jogger drehen ihre Runden, auf einer Verkehrsinsel steht: "Wenn du Glück suchst, suche es in dir."
La Rossa beweist, dass Kultur auch an einem scheinbar kulturlosen Ort existieren kann. In Scampia gibt es kein Kino, nicht mal einen großen Supermarkt. Dafür aber einen der renommiertesten Buchverlage in ganz Neapel: "Marotta e Cafiero". Seit fünf Jahren führt La Rossa den Verlag gemeinsam mit seiner Freundin Maddalena Stornaiuolo. Die Verlegerfamilie hatte ihm den Betrieb übertragen, weil sie den jungen Schriftsteller unterstützen wollte. Kurz zuvor hatte der damals 18-Jährige seinen Debütroman bei ihnen veröffentlicht. Rosario La Rossas Schreibstil erinnert an den Rapper Haft befehl; ehrlich, schnell, schlau. Es geht in seinen Texten aber nicht um Gras, Frauen ärsche und Waffen, sondern um den Alltag mit dem Verbrechen und um den Tod.
Im Winter 2004 führten zwei Mafiaclans Krieg in Scampia. Innerhalb von nur drei Monaten starben mehr als hundert Menschen im Kugelhagel, auch La Rossas Cousin Antonio. Er hatte in der falschen Bar zum falschen Zeitpunkt am Tischkicker gestanden. Wenig später begann La Rossa, Kurzgeschichten zu schreiben. "Verdammt, auf Scampias Straßen wird geschossen. Dort, wo ich träumte, Fußballer zu werden", schreibt er. "Die Toten werden immer mehr. Wir schauen nur zu."
Auch deshalb steht La Rossa über zehn Jahre später um elf Uhr in der Aula derlokalen Berufsschule, neben ihm ein Schriftsteller, der sein neues Buch mit buddhistischen Erzählungen vorstellen soll. Die Schüler hängen im Jogginganzug und mit gegelten Haaren auf Holzstühlen herum. Der Autor erzählt von Liebe und Erleuchtung. Die Schüler tuscheln. "Ey! Ragazzi!", ruft La Rossa. "Wenn ihr keinen Bock habt, geht raus!" Die Schüler verstummen kurz. Und reden dann natürlich weiter.
Das Hauptquartier des Verlags liegt anderthalb Kilometer von der "Vele"-Siedlung entfernt. Als La Rossa damals um Hilfe bei der Immobiliensuche bat, lachten die Beamten ihn aus: "Ein Verlag, in Scampia? Das klappt nie." Aber La Rossa siegte. Sein Büro ist winzig, der ganze Raum vollgestellt mit Bücherkisten, am Eingang steht: "Erzählen ist Widerstand." Inzwischen hat La Rossa mehr als fünfzig Bücher veröffentlicht und knapp 52 000 Euro Kapital über eine Crowdfunding-Plattform eingesammelt. Während die Spenden zu Beginn vor allem aus Norditalien kamen, wird er mittlerweile auch von Scampia-Bewohnern unterstützt. Er beschäftigt in zwei Buchläden einige Jugendliche, er zeigt, dass die Camorra nicht die einzige Karriereoption im Viertel ist.
La Rossa verlegt kleine, kluge Bücher und denkt in größeren Zusammenhängen. Konkret arbeitet er an der Umkehrung der sogenannten Broken-Window-Theorie, die besagt, dass ein Stadtviertel automatisch verelendet, wenn zerschlagene Fenster nicht repariert werden und Müll auf der Straße verrottet, weil diese Zustände Menschen zu verantwortungslosem Handeln motivieren. "Manchmal reicht es, einfache Dinge zu machen, um ein Viertel aufzuwerten", meint La Rossa. Je mehr Kulturveranstaltungen und Lesungen er in Scampia organisiert, desto eher sind die Leute stolz auf ihr Viertel und kümmern sich. Irgendwann gibt es dann vielleicht keine zerbrochenen Fenster mehr. Als Nächstes plant La Rossa die Eröffnung einer Bibliothek. Wieder gibt es Menschen, die seinen Plan verrückt finden. Die ersten 18.000 Bücher stapeln sich jedoch bereits in seinem Verlag.
HOMEOFFICE: Die 28-jährige Cecilia Anesi will das Mediensystem verändern - dafür braucht sie nicht mal eine eigene Redaktion.
Schnapsideen sind manchmal die besten Ideen. 2011 saß Cecilia Anesi nach einer Medienkonferenz an einer Hotelbar in Kiew und trank mit italienischen Kollegen Wodka-Shots. Irgendjemand sagte: "Keine italienische Zeitung hat ihre Reporter hierhergeschickt. Nur wir Freiberufler sind hier. Warum machen wir nicht was Eigenes?"
Wenig später gründete Anesi gemeinsam mit acht Kollegen IRPI, eine investigative Medienagentur, die sich vor allem durch Spenden finanziert und zum Beispiel über Mafiaverstrickungen in Afrika berichtet. Die Journalisten verkaufen ihre Recherche-Dossiers auch an internationale Medien wie den britischen "Guardian". Es ist derVersuch, mit gut recherchierten Reportagen und politischen Themen die Öffentlichkeit zu informieren und davon den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Was wenig revolutionär klingt, gilt im italienischen Journalismus schon als Alleinstellungsmerkmal. "Wir haben eigentlich keine Konkurrenz", sagt die 28-Jährige. Im italienischen Fernsehen, von Silvio Berlusconi geprägt, laufen banale Unterhaltungsshows, die Zeitungen berichten vor allem über Parlamentsdebatten.
"Irgendwas mit Medien" ist in Italien immer noch ein beliebter Karriereplan, obwohl drei Viertel der freiberuflichen Journalisten weniger als 10 000 Euro im Jahr verdienen. "Meiner Generation wurde eingebläut, dass es ein Lebensziel sei, berühmt zu werden", sagt Anesi. "Diejenigen, die nicht das Zeug zum Showgirl oder Fußballprofi hatten, drängten als Journalisten in die Öffentlichkeit." Es ist kein schlechtes Zeichen, wenn Leute wie Anesi nicht das Scheinwerferlicht suchen, sondern die Wahrheit.
Die IRPI-Agentur will das Monopol der Medienkonzerne und des staatlichen Fernsehens aufbrechen, will neue Infoquellen und Wege aufzeigen. Das ist auch notwendig. Es gibt genug Bereiche, die man untersuchen müsste: Auf dem Korruptionsindex von Transparency International belegt Italien nur den 69. Platz von 174 Ländern. Durch Schmiergeld entgehen dem Staat etwa 60 Milliarden Euro jährlich an Steuern. Dazu kommt: Es ist gefährlich, in Italien über Korruption und Skandale zu berichten. Roberto Saviano lebt nach seinen Enthüllungsgeschichten über die Mafia seit Jahren unter Polizeischutz, viele Journalisten werden von Politikern und Unternehmen mit Verleumdungsklagen bombardiert, deren einziger Zweck die Verhinderung der Story ist. Auch Anesi ist das schon passiert. Kein Wunder, dass Italien auf dem weltweiten Index für Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen auf Platz 73 von 180 liegt.
4: Der Gründer, Mailand
HIGH-SPEED-ANSCHLUSS: Der Start-up-Gründer Simone Lini hat fünfzehn Mitarbeiter in Mailand.
Das italienische Silicon Valley liegt an einer vierspurigen Straße in einem ehemaligen Gebäude der staatlichen Telefongesellschaft. Simone Linis Mitarbeiter sitzen an zusammengeschobenen Tischen, auf den Bildschirmen vor ihnen: Kurvenberechnungen und Tabellen. Verstreut im Raum stehen Red-Bull-Dosen und Server-Kühlsysteme herum. "Italien ist eigentlich ein beschissenes Land, wenn man jung ist", sagt Lini, ein 25-jähriger Unternehmer mit Werberlächeln. "Aber für Start-up-Gründer ist Mailand der perfekte Ort günstige Arbeitskraft, viele Investoren, kaum Konkurrenz."
Lini nutzt die schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu seinem Vorteil. Vor zwei Jahren sammelte er 700 000 Euro Startkapital ein und entwickelte das Start-up Waynaut, eine Datenbank für Reiserouten, die von Unternehmen genutzt wird. Seinen Programmierern zahlt er 1200 Euro Gehalt. In Berlin müsste er doppelt so viel für sie zahlen, sagt Lini, und in San Francisco und London seien talentierte Coder fast unbezahlbar.
Lini gehört zu den Ingenieuren, Unternehmern und Mathematikern, die das ehemalige Industriegebiet Lambrate in einen digitalen Standort verwandeln. Weil zahlreiche Konzerne wegen der Wirtschaftskrise einen Einstellungsstopp verhängt haben, versuchen viele, etwas Eigenes zu erschaffen: 2014 ist die Zahl der Start-ups in Italien um fast zwanzig Prozent gestiegen.
Der Lebenslauf von Lini liest sich so, als hätte er schon immer geahnt, dass ein UniDiplom irgendwann keine Jobgarantie darstellen würde. Mit elf Jahren programmierte er seine erste Pokémon-Website, mit vierzehn Jahren baute er Websites für 59 Euro. Mit achtzehn Jahren ging er auf die Mailänder Eliteuniversität Bocconi. Er arbeitete sich bei Rocket Internet, dem Internetimperium der deutschen Samwer-Brüder, vom Praktikanten zum Mitarbeiter hoch, bekam Angebote von Investmentbanken. Doch er entschied sich für das Risiko, für die eigene Firma. "Klar, ich hätte bei einer Bank viel Geld verdient. Aber wann kann ich sonst so etwas wagen wie jetzt? Ich muss mich noch nicht für den Rest meines Lebens festlegen", sagt er. Im Herbst will er mit Waynaut in die nächste Finanzierungsrunde gehen und weiterwachsen. Sollte sein Start-up wirklich explodieren, sagt Lini, dann wird er Italien verlassen: Zu klein sei das alles hier, keine Investoren, keine internationalen Firmen, kein Weltmarkt. Er findet: "Da müsste sich hier in Mailand noch viel tun."
5: Die Ministerin, Rom
IST DIGITAL BESSER? Marianna Madia will die Bürokratie mithilfe moderner Technologien vereinfachen.
Das Büro von Marianna Madia sieht aus wie der Salon eines Adligen, zwei Kronleuchter aus venezianischem Glas an der Decke, Fresken an der Wand wenn da nicht in der Ecke der Schreibtisch mit Computer stünde und ein Flachbildfernseher mit 24-StundenNachrichten; und da ist natürlich Madia selbst, 34 Jahre alt, kniehohe Wildlederstiefel, ihre Locken hat sie ordentlich unordentlich aus dem Gesicht gezwirbelt. "Der Raum ist viel zu groß", sagt sie bestimmt, "so viel Platz brauche ich gar nicht." Sie will kein repräsentatives Einzelbüro, sondern eine politische Schaltzentrale, in der ihre Mitarbeiter eng miteinander kooperieren.
Marianna Madia ist eine Ministerin in der Renzi-Regierung und beweist, dass die Generation der "bamboccioni" mittlerweile in den Chefetagen angekommen ist zumindest ein paar von ihnen. Auch der Mailänder Professor Alessandro Rosina ist heute vorsichtig optimistisch: Die italienische Jugend habe die Voraussetzungen, erfolgreich und unabhängig zu werden, sagt der Demograf. "Aber sie muss ihre Chance nutzen." Zwei von drei Jugendlichen sind der Meinung, dass man aufhören sollte, sich selbst zu bemitleiden.
Madia sitzt seit 2008 als Abgeordnete im römischen Parlament, im selben Jahr promovierte die Politikwissenschaftlerin über die Regulierung des italienischen Arbeitsmarkts. Trotzdem wird ihr immer noch vorgeworfen, zu jung für ihr Amt zu sein, zu unerfahren. "Natürlich haben ältere Leute oft mehr Erfahrung", sagt Madia, "aber wir Jungen haben den Vorteil, dass wir uns nicht an schlechte Abläufe gewöhnt haben."
Madia ist Ministerin für Bürokratievereinfachung und soll die ineffiziente öffentliche Verwaltung in Italien umkrempeln: So warten etwa Mittelständler laut Weltbank oft drei Monate auf einen Stromanschluss. Natürlich ist sie nicht die Erste, die versucht, die Bürokratie abzubauen. Die rund drei Millionen Verwaltungsbeamten, fordert sie, sollen nach Leistungskriterien befördert werden und nicht wie bislang nach Dienstjahren. Verwaltungsvorgänge wie etwa die Zahlung von Schulgebühren sollen elektronisch erledigt werden können. Das sind keine revolutionären Ideen, Madias Ziel aber ist ein großes, die "cittadinanza digitale", die digitale Bürgerschaft.
Auch Premier Matteo Renzi tönte bei seinem Amtsantritt großspurig, nach zwanzig Jahren Geschwätz sei es Zeit, endlich anzupacken. Jeden Monat werde er eine Reform anstoßen, Arbeitsmarkt, Wirtschaftsrecht. Im Rahmen der Sparmaßnahmen ließ er über 150 Ministerlimousinen auf Ebay versteigern, rund 700 000 Euro nahm der Staat ein. Die Regierung beschränkt sich jedoch nicht nur auf PR-Aktionen. So wurden etwa die Steuern für Geringverdiener gesenkt. Im Mai 2015 wurde beschlossen, den Senat abzuschaffen, was politische Prozesse vereinfachen soll. Die Hälfte aller Italiener unterstützt Renzi, erstmals seit drei Jahren wächst die Wirtschaft, die Arbeitslosenzahlen steigen zumindest nicht.
Es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, ob Madia und die jüngste italienische Regierung aller Zeiten das Land wirklich aus der Krise führen können. Es zeugt noch nicht von einem tief greifenden politischen Wandel, wenn in den Abendnachrichten nicht länger nur grauhaarige Männer in die Kameras lächeln, sondern auch junge Männer und Frauen. Jüngere Politiker treffen nicht automatisch die besseren Entscheidungen. Sie haben jedoch ein Eigeninteresse an nachhaltiger Politik, weil sie auch in fünfzig Jahren noch in dem Land leben. In einem Interview sagte Matteo Renzi: "Meine Kinder werden von mir nicht zu hören bekommen: ›Ach, in Italien kann man sowieso nichts bewegen‹."
Marianna Madia und die anderen Krisenkämpfer scheinen solche pessimistischen Gedanken ohnehin zu verdrängen. "Ich sehe mich selbst in der Pflicht, etwas zu verändern", sagt sie. Vielleicht ist das ja ein positives Nebenprodukt der Krise dieser Zwangsoptimismus und die Tatkraft, die alle eint. Denn: Schlimmer als jetzt kann es ja nicht mehr kommen, und wenn es doch noch schlimmer kommen sollte, ist man schon auch selbst dran schuld. Madia war am Tag ihrer Vereidigung im achten Monat schwanger, fünf Tage nach der Geburt ihrer Tochter begann sie, als Ministerin zu arbeiten. Sie weiß, dass sie privilegiert ist, sie verdient gut, ihre Mutter kümmert sich oft um die Kinder. Sie betont, dass junge Menschen wirtschaftliche Sicherheit haben müssen, um sich die Familiengründung wieder zuzutrauen. Sie sagt aber auch: "Die Geschichte hat an meine Tür geklopft, wie hätte ich zu der Verantwortung Nein sagen können?"
Dieser Text ist in der Ausgabe 08/15von NEON erschienen.