Madeleine Londene

Freie Journalistin, Augsburg & Berlin

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Artikel

Jesus von Cannstatt

Dalley hält kurz inne und hebt warnend eine Hand in die Luft. Er kneift beide Augen zusammen und lächelt in sich hinein. Eine halbe Minute vergeht. Plötzlich schlägt er seine Augen wieder auf und erklärt, was soeben geschehen ist: kurzes Gespräch mit Jesus.

Mit ausgebreiteten Armen steht er auf der Bühne in der Stadthalle in Besigheim. Auf der Leinwand hinter ihm prangt ein riesiges Gesicht Jesus vor einem Sonnenaufgang. Panflötenmusik spielt im Hintergrund, Fotos von kranken Kindern, Haustieren und Großeltern liegen auf dem Bühnenboden zu Dalleys Füßen.


Stephan Dalley behauptet: Er war neun, als ihm Jesus das erste Mal erschienen ist. Und er behauptet noch etwas: Dass Jesus ihm göttliche Kräfte verliehen habe. Somit könne er heilen, den Husten und die Depression, Krebs und HIV. Ohne Berührung, ohne Hilfsmittel, einfach nur, indem er mit ausgebreiteten Armen da stehe und still für sie bete. 

Viele Menschen, voller Sorgen und ohne Hoffnung, glauben das.


An diesem Abend sind an die 40 Hoffende gekommen in die Stadthalle von Besigheim, zum „Jesus von Ludwigsburg“. Mit gefalteten Händen sitzen sie vor Dalley, der heute eine schimmernde lilafarbene Weste trägt. Manche mögen um die 30 sein, andere sehen aus, als seien sie über 80. Buntgewürfelt sind die Menschen, in einigen vermutet man den Hilfsarbeiter, in anderen die Anwältin. Einige sind von weither hergereist. Längst ist der vermeintliche Jesus nicht nur im kleinen Besigheim, sondern auch bundesweit und im Ausland bekannt.


Kurz bevor Dalley mit der zwanzig Minuten Intensivheilung beginnt, erzählt eine Besucherin: „Ich bin seit über zwanzig Jahren bei Dalley in Behandlung. Er hat meinen Sohn von Blasenkrebs geheilt. Mittlerweile schicke ich sogar meinen Urenkel zu ihm“. Sie ist Ende siebzig und gemeinsam mit ihrem Ehemann aus Reutlingen hergefahren. Ihre Freunde seien skeptisch. „Einmal habe ich einige Freunde zu einer Gruppenheilung mitgenommen. Danach wollten sie nie wieder vorbeischauen.“


Nur 12 Euro kostet der Eintritt an diesem Abend. Die heutige Gruppenheilung trägt den Titel PANDEMIE. Der Inhalt der Veranstaltung ist brandaktuell: Staphen Dalley spricht über das Coronavirus.


„Erschreckt nicht!“ sagt Dalley und schlendert die Bühne auf und ab „Bleibt gelassen und alles wird gut. Viren, Bakterien – sie alle haben keine Chance gegen euch.“  Er selbst sei vor Kurzem in Myanmar gewesen und habe sich nicht gegen die Tse-Tse-Fliege geimpft. Wer unter dem Schutz Gottes steht, führt er aus, braucht keine Prophylaxe, kein Antibiotikum, keine überflüssigen Impfungen.


Keiner im Publikum erhebt Einspruch. In Dalleys Welt sind Krankheiten nicht einfach nur Krankheiten. Sie sind ein Test, um den Glauben der Menschen zu prüfen.

Stephan Dalley ist einer von vielen. Homöopathen- und Esotherikerkongresse platzen aus allen Nähten. Studien zeigen, dass die Deutschen mehrere Milliarden Euro jährlich für alternative Heiltherapien und Heilmittel ausgeben. Dafür gibt es viele Gründe.

Einer: Der technische Fortschritt in unserer globalisierten Welt schreitet rasant voran, manche fühlen sich davon abgehängt und suchen Einfachheit in einer immer komplexer werdenden Welt. Ein weiterer Grund: Die Schulmedizin, in ihrer kalten Effizienz, spricht nicht zum Herzen. Ein dritter: Viele Menschen, bei denen herkömmliche Behandlungen versagen, klammern sich an alternative Methoden.


Und so suchen Menschen, die an schweren Krankheiten leiden, ihre Heilung in homöopathischen Zuckerkügelchen, Handauflegen oder Metallpendel, in neuer Germanischer Medizin und Geistheilungen. Der Graubereich der alternativen Heilmethoden ist wenig ausgeleuchtet, und er ist weitläufig.


Einige Stunden zuvor in Dalleys Praxis. Es riecht nach Sandelholz und Aromakerzen. An den Wänden Jesusbilder: als Säugling auf dem Arm Marias, als erwachsener Mann am Kreuz mit einem Dornenkranz auf der blutigen Stirn. Dalley sitzt auf einem Sessel, die Beine locker übereinandergeschlagen. Er hat einem Interview eingewilligt: die Berichterstattung über alternative Heilmethoden sei in seinen Augen zu einseitig ist, das wolle er geraderücken.

Mit neun Jahren also, sei ihm Jesus das erste Mal erschienen. Still habe er im Bett gelegen, in seinem Kinderzimmer in Bad Cannstatt. Plötzlich füllt sich der Raum mit Licht. Ein Wohlgefühl, ein Gefühl des unendlichen Glücks überflutet den Jungen, als eine Stimme ertönt. Es ist Jesus, der zu ihm spricht. „Wieso hast du mich gewählt?“ dachte sich Dalley.

Nach diesem ereignisreichen Abend führen Jesus und Dalley regelmäßig stundenlange Dialoge, spenden sich Rat und Trost. Jesus und seine innere Stimme waren Dalleys größter Schatz. Auch nach dem Tod seines Vaters, der bei einem Autounfall ums Leben kam, fühlte er sich dadurch nie alleine.


„Jesus hat mich in den Heilungsdienst berufen!“ sagt Dalley und lacht. Dabei wollte er, trotz seines unerschütterlichen Glaubens an Gott, nie Heiler werden „bis ich Mitte zwanzig war habe ich mich dagegen gewehrt, bin vor mir selbst davongelaufen.“


Nach der Schule lernt er Schreiner, mit 18 zieht er von zuhause aus und beginnt in Stuttgart eine Lehre als Großhandelskaufmann. Nebenher jobbt er im Freibad als Bademeister. Eines Tages fällt Dalley buchstäblich vom Himmel: er stürzt bei einem Gleitschirmflug ab und verletzt sich schwer Knie. Trümmerbruch.


Spitzenärzte operieren an Dalley, nur um ihm die Nachricht zu überbringen, dass er nie wieder klettern oder gleitschirmfliegen wird. Selbst das Laufen bereitet ihm große Schmerzen. Da sei ihm erneut Jesus erschienen und habe zu ihm gesagt: „geh raus aus diesem Krankenhaus!“. Gegen den Ratschlag der Ärzte entlässt sich Dalley selbst frühzeitig mit den Worten „alles im Leben tut man auf eigene Verantwortung“.


Hilfe findet er bei seinem Chef, dem ehemaligen Badeleiter, der selbst vorgibt Heiler zu sein. Mittels eines Universal-Pendels behandelt der Badeleiter sein zertrümmertes Knie. Sechs Wochen später klettert Dalley die Wände in einer spanischen Bergregion hoch und runter.

1993 schließt Dalley seine Ausbildung bei der grace academy ab und beginnt für Kranke zu beten, besucht Patienten, die im Sterben liegen. Doch bis 1997 ist „Heilen“ als Beruf in Deutschland gesetzlich verboten. Über sich sagt der Christ mit selbsternannter Heilungsgabe „ich selber kann gar nichts, außer beten. Ich erfülle nur Jesus seinen Willen.“


Experten wie die Ärztin und Autorin Natalie Grams sind besorgt: Während die Zahl der Ärzte in Deutschland sinkt, steigt die Zahl der alternativen Heiler. Im konservativen Bayern sind 40 Prozent der insgesamt bundesweit 80.000 Heiler:innen tätig. Der Ausbildungsweg für Ärzte ist lang, teuer und kräftezehrend, „Heiler“ aber, darf sich jeder nennen. Es reicht ein Raum und ein Schild an der Tür und voilá – eine Praxis ist geboren.


Wobei, sagt Natalie Grams, offiziell dürfte es „Heiler“ eigentlich gar nicht geben. Denn wer Heilung verspricht, macht sich strafbar. Also greifen viele von ihnen zu Formulierungen, wie den „Gesundheitswillen stärken“. Auf diesem schmalen Grat dürfen sie rechtlich wandeln.

Svenja Hardecker, Theologin bei der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen Württemberg, erzählt: „Häufig rufen Angehörige besorgt bei uns an, weil ein Familienmitglied einen Heiler besucht“. Auch sie beobachtet die Szene der freien Heiler: „Heiler nehmen oft Gott für Ihre Zwecke in Anspruch, dadurch verleihen sie sich Autorität“.


Manche der Angebote sind harmlos, können unter strenger ärztlicher Beobachtung sogar unterstützend wirken. Andere kriminell. Sie geben illusorische Versprechen und ziehen kranken, hoffnungslosen Menschen das Geld aus der Tasche, bringen sie in Abhängigkeitsverhältnisse, aus denen sie und ihre Angehörigen nur schwer wieder zu befreien sind. „Viele Heiler treten in modernen Formaten auf, arbeiten allerdings mit antimoderner Theologie“ betont Hardecker. Und genau darin liegt auch die Gefahr.

Der Esoterikermarkt ist nicht ausreichend reguliert. Wer Heiler sein möchte muss nur ein Gewerbe anmelden und regelmäßig Steuern zahlen. Rechtliche Auflagen sind zu weitmaschig. Kommt es zum Extremfall und stirbt ein Patient, kann der behandelnde Heiler rechtlich kaum belangt werden. Denn: Wer sich in Behandlung begibt, tut dies auf eigener Verantwortung.


In Dalleys Praxis klingelt das Telefon, es schaltet auf Anrufbeantworter und eine Frauenstimme ertönt. Diese Patientin, erzählt er, habe sich kürzlich besorgt an ihn gewandt: Ärzte wollten ihrem Enkel den Unterschenkel amputieren. Es hätten zwei Gebete gereicht und der Junge war wieder kerngesund, behauptet Dalley.


Dalley wirkt tiefenentspannt. Erst vor Kurzem hat er sein schulterlanges, weißes Haar abgeschnitten: „Die meisten konvertieren, nur wenn ich mit ihnen schwätze“. Egal ob Moslem oder Buddhist, alle würden sie zum Christentum überlaufen.


Auf seiner Website bietet Stephan Dalley verschiedene Seminare an, wie Engel und Dämonen und die Autorität des Christen. Die Veranstaltung dauert zwei Stunden und kostet 170 Euro. Neben Gruppenheilungen bietet er Einzelsitzungen und Fernheilung per Telefon an – für die er lediglich um eine Spende bittet. Gesetzlich dürfen selbsternannte Heiler ohne Heilkundeerlaubnis kein Geld für ihre Tätigkeit verlangen. Zudem sind die „Spenden“ beim Finanzamt besser abzusetzen.


In der Vergangenheit hatte Dalley bereits mit heftiger Kritik zu kämpfen. Vor ein paar Jahren verfassten eine Pfarrerin und ein Arzt aus der Gegend einen Artikel über den Heiler: in seiner Praxis ginge es nicht mit rechten Dingen zu. „Rufmord!“ nannte es Dalley, der die Anklage nicht auf sich ruhen ließ: „Die Pfarrerin habe ich mir dann zur Brust genommen, bin mit ihr durch die Bibel gerast. Anschließend hat sie sich bei mir entschuldigt.“

Grams, die neben dem Medizinstudium eine Ausbildung als Heilpraktikerin abgelegt hat, betont: „Hoffnung haben ist immer gut, doch ersetzt niemals eine schulmedizinische Behandlung“. Heiler bieten einfache Lösungen, statt komplexe Therapien. Die Konsequenzen davon können verheerend sein - enden im schlimmsten Fall tödlich. Ärzte sind, im Unterschied zu Heilern, fehlbar.


Grams appelliert: „Medizin muss humaner werden“. Die Menschen, die Heiler aufsuchen haben Ängste, Bedürfnisse und Lebensfragen. Ärzte müssen entlastet werden, damit sie ihren Patienten menschlicher, mit Herz, entgegentreten können. Transparenz auf beiden Seiten ist wichtig, nur dann könnten beide Methoden einander sinnvoll unterstützen.

Der Einfluss der Kirchen sei zwar zurückgegangen, der Glaube allerdings nicht aus der Gesellschaft verschwunden. Menschen sind auf der Suche nach dem einfachsten und schnellsten Weg aus ihrer Misere. Es ist der Griff nach dem letzten Strohhalm.

Zwei Frauen, beide Anfang dreißig, unterhalten sich nach der Gruppenheilung im Zuschauerraum. Eine der beiden weint. In ihrer rechten Hand umklammert hält sie das Foto eines Mädchens, es könnte ihre Tochter sein. Tröstend streicht sie der Schluchzenden über den Rücken. „Du musst nur ganz fest daran glauben. Es ist wie Dalley sagt: erfüllt sich etwas nicht, waren wir nicht genug davon überzeugt, dass wir Heilung auch wirklich verdient haben.“ Die Weinende nickt, steckt das Foto in ihre Handtasche und geht. Den kommenden Monat wird sie wieder hier sein - und hoffentlich noch für das Mädchen beten können.

 

 

 

 

 

 

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