Beim Lesen begleiten wir Hildegard - Hilla - Palm auf ihrem Weg durch das Leben und ihrer Suche nach Glück. Hilla ist ein einfaches Arbeiterkind, das „Kenk vun nem Proleten", wie ihr Vater in rheinischen Dialekt (an den muss man sich gewöhnen - für Nicht-Rheinländer*innen sind die Bücher in einer fremden Sprache geschrieben!) zu sagen pflegt. Sie wächst in den fünfziger Jahren in einem kleinen Dorf am Rhein auf, ihre Familie ist streng katholisch, in der gesellschaftlichen Unterschicht situiert und wünscht sich für die Tochter nichts sehnlicher als die Heirat mit einem katholischen Mann mit Einkommen - und dass sie sonst keinen Ärger macht.
Dumm nur, dass Hilla schon als kleines Mädchen ihren ganz eigenen Kopf hat und ihre Familie von klein auf intellektuell überfordert. Ihre Geschichte - Ullas Geschichte - ist die typische Aschenputtel-Story: Gegen alle äußeren Zwänge und Gewalterfahrungen, die Stockhiebe und Häme des Vaters (sie solle sich ja nicht einbilden, etwas Besseres zu sein), Verbote, Unterdrückung und die Herabwürdigungen der ihr gesellschaftlich überlegenen, gebildeten Außenwelt setzt sie sich erfolgreich durch, lernt hochdeutsch und mit Messer und Gabel zu essen, darf nach einer abgebrochenen Ausbildung und mit Unterstützung ihres Lehrers das Gymnasium besuchen und schließlich in Köln studieren, wo sie ihre Liebe zum Erzählen und zum geschriebenen Wort in der Germanistik findet. Der Weg zur weltbekannte Lyrikerin und sogar von Reich-Ranicki gelobten Schriftstellerin war jedoch selten mit Privilegien gepflastert.
Und da es meist die Tiefpunkte eines Lebens sind, die die Autor*in dieser Rezension am meisten bewegen und vor allem die der Ulla-Hilla, in denen sie sich persönlich wiederfindet, sollen die Leiden der Hauptperson im Vordergrund dieses Textes stehen. Leiden, Schmerzen, Erfahrungen, die Hilla Palm als Mädchen und Frau gemacht hat, die exemplarisch dafür stehen können, was Frauen zu jener Zeit und auch heute noch(!) durchmachen müssen. Von der Unterschätzung ihrer Leistungen, der Degradierung ihrer Person aufgrund ihres Geschlechts; dem subtilen Druck, Erwartungen sexueller Art oder auf Zukunftspläne bezogen zu erfüllen; über Abhängigkeiten, die sich überall aufzutun drohen; ein Hillas gefangenem Willen widersprechendes Ausbildungsverhältnis, aus dem sie sich im Schnaps befreit; bis hin zur Vergewaltigung widerfährt der Protagonistin die ganze Palette von Rape Culture und Repression. So taumelt Hilla zwischen Alkoholrausch und Schluckauf, Befreiungsversuchen und erneuter Unterdrückung. Und über all dem liegt ein Mantel des Schweigens, damals wie heute.
Inzwischen befinden wir uns in der dritten Generation des Feminismus, in einer Zeit von Frauenquote, Gender-Gap, Kanzlerin - vermeintlicher Chancengleichheit. Kein Vater dürfte seine Tochter mehr verprügeln, weil sie Bücher liest, keinem Mädchen der Besuch des Gymnasiums verweigert werden, weil es ohnehin später heiraten wird. Aber was ist mit den viel subtileren Diskriminierungsformen, die sich nicht durch Gesetze regeln lassen? Fast 60 Prozent aller Frauen sind im 21. Jahrhundert in Deutschland Opfer sexueller Belästigung, 40 Prozent gar von körperlicher oder sexueller Gewalt. Der Begriff ist kein Fremdwort mehr und immerhin Thema aktueller Diskussionen, von Vorträgen, Studien und Grund, neue Stellen zu schaffen, Gleichstellungsbeauftragte und ähnliches. Davon wird aber das eigentliche Problem nicht gelöst. Menschen mit weiblichem Phänotyp erfahren nach wie vor auf ihren Körper bezogene Reduktion, damit verbundene Gewalt und das darauf folgende Schweigen: Manche Schmerzen können nicht in Worte gefasst werden.
Aber Ulla Hahn ist Meisterin des geschriebenen Wortes, sie widerlegt mich und findet sie, die Worte, die Sätze, um zu aufzuschreiben und auszusprechen, was nicht gesagt werden kann. Nie war das Leiden so von Begriffen gepackt, nie der Schluckauf so bildlich vorstellbar wie in ihrer Trilogie. Schon im „verborgene[n] Wort" fesselt die kleine Kämpferin Hilla ihre Leser*innen und lässt sie Dorfleben und Elternhaus mit erleiden; „Aufbruch" stellt den Wendepunkt ihres Lebens und den Höhepunkt des Werkes dar; im „Spiel der Zeit" ist vor allem die historische Komponente interessant, da Hilla Palm als Kölner Studentin sechziger Jahre, neue Linke und Anti-AKW-/Anti-Vietnamkriegs-Bewegung hautnah miterlebt. Ihr persönliches Leben nimmt zum Abschluss durch Versöhnung mit den Eltern, Erfolg im Studium, tolle Freund*innen, große Liebe und schlussendlich Hochzeitspläne jedoch leider eine beinahe unrealistisch (wenn die Geschichte nicht wahr wäre!) glückliche Wendung, die mehr an Hollywood denn an das wirkliche Leben erinnert.
Dies zu rezensieren überlasse ich gerne dem Feuilleton der FAZ, den Inhalt fasst auch Wikipedia sehr treffend zusammen. An Stelle einer Buchrezension möchte ich eigentlich nur schreiben: „Lommer jonn" (wie Hillas Großvater immer sagte - das heißt auf rheinländisch so viel wie „Lasst uns gehen"; ich würde an dieser Stelle gerne „vorwärts gehen" daraus machen) in Richtung einer gleichberechtigten, diskriminierungsfreien und gerechten Gesellschaft.
Louisa Theresa Braun