"Keine Zeit", sagt Volker Göllner, 64. Er hat den weißen Arztkittel schon ausgezogen und seine Jacke übergeworfen, den blau-weißen Schal vom Garderobenhaken genommen. "Ich muss ins Stadion." Die Sprechstunde ist zwar vorbei, doch der Patient lässt sich nicht abwimmeln. "Da will ich doch auch hin", sagt er. "Aber diese Rückenschmerzen..."
Göllner hat ein Einsehen und eine Spritze parat, hängt Jacke und Schal noch mal an die Garderobe. Der Patient kommt schmerzfrei ins sieben Kilometer entfernte Stadion, und auch Göllner schafft's noch pünktlich in die Arena. Solidarität unter Schalke-Fans. Das sind die Geschichten, die sich die Patienten erzählen. "Datt gehört hier dazu", sagen sie, "wenn du in Gelsenkirchen wohnst."
Genauer gesagt: Gelsenkirchen-Horst. Langgezogene Reihen von Wohnhäusern, zwei, drei Stockwerke hoch, Bergarbeitervergangenheit. Am Seiteneingang eines der Häuser die Praxis des fußballverliebten Doktors, nichts Pompöses, so bodenständig wie die Nachbarschaft. Von außen eine paar Treppenstufen nach oben, ein kleiner Flur und schon ein erster Hinweis auf die Leidenschaft des Arztes: Ein dickes Schalke-Logo klebt an der Tür vom Patienten-WC.
Im Wartezimmer dann die Königsblau-Dröhnung. Und erst recht im Sprechzimmer. Andere Ärzte haben Sonnenuntergänge an den Wänden oder schleichwerbende Gesundheitshinweise von Pharmafirmen. Nicht so Göllner.
In seiner Praxis regieren die Knappen: Mannschaftsfotos, Autogramme von Olaf Thon und Ex-Manager Rudi Assauer. Plakate, die an wichtige Spiele erinnern. Eindeutig beherrscht eine bestimmte Epoche der Vereinsgeschichte die Plakatauswahl. "Gute Kontakte zum damaligen Busfahrer von Schalke", mutmaßen Patienten.
Wehwehchen mit Maskottchen
Göllner wirft den Rechner in seinem Sprechzimmer an. Bevor die Praxissoftware startet, wackeln am oberen Monitorrand erst einmal Schalke-Maskottchen durchs Bild. Fußball-Figuren auch auf dem Schreibtisch, zwischen Tastatur und Bildschirm: Ein Klein-Pokal, eine Trillerpfeife mit Vereinslogo, ein Gartenzwerg, ein Schneemann mit Schal - alle mit blau-weißen Erkennungsmerkmalen. Und auch "Erwin", das offizielle Maskottchen, "beliebt bei allen Altersgruppen", wie es beim Verein heißt.
Schon im Kinderwagen wurde Göllner mit auf den Fußballplatz gefahren, später war er zehn Jahre lang Schiedsrichter, bis in die obersten Amateurligen. Fußball ist sein einziges Hobby. Nach seiner Zeit als Assistenzarzt im Krankenhaus Gelsenkirchen-Horst übernimmt er seine Hausarztpraxis, damals noch eine Knappschaftspraxis, die auf Bergarbeiter-Krankheiten spezialisiert ist. Seinen Schalke-Tick nimmt ihm da keiner krumm: "Meine Wohnung sieht genauso aus", sagt Patientin Karin Helmes. Sie ist zu einer Untersuchung in der Praxis und natürlich auch Fan. Eifersüchtig auf die Devotionaliensammlung ihres Hausarztes? "Ach was, ich komme auch an Autogramme und Fotos, wenn ich will."
"Einmal hat sich der Sohn einer Patientin eine Mutprobe ausgedacht", erinnert sich Göllner. Der Junge war elf Jahre alt und sollte von Göllner untersucht werden. In der Schalke-Praxis erschien er aufgeregt im schwarz-gelben Trikot des Erzrivalen, dessen Name Göllner wie jedem echten Schalker nur schwer über die Lippen geht: Borussia Dortmund. Ja nicht erwähnen, das wäre zu viel der Ehre für die Truppe vom Ostrand des Ruhrgebietes. Stattdessen spricht Göllner von "Lüdenscheid-Nord". Oder der "Stadt nördlich von Lüdenscheid".
Den Jungen hat Göllner trotzdem untersucht. "Natürlich", sagt er. Schließlich ist Göllner zu allererst Hausarzt.
Neutrale Zonen
Immerhin gibt es in der Praxis ein neutrales Zimmer, ganz ohne Hinweis auf Schalke. "Das ist für Leute wie den Jungen mit der Mutprobe", sagt er. Und für einige ältere Patienten: Bodenständige Horster, die in der Nachkriegszeit auf die Fußballplätze gepilgert sind. Da waren STV Horst und Schalke 04 erbitterte Ruhrpott-Rivalen. Das prägt fürs Leben. Wer damals für Horst gejubelt hat, kann jetzt nicht für Schalke sein. Zu viele Schalke-Logos regen da nur auf.
Vielleicht war es ein deswegen empörter Patient, der dem Arzt eines der Lieblingsstücke stibitzt hat. Eine Miniatur des Stadions, seine Assistentinnen hatten ihm die geschenkt. "Weg", regt sich Göllner auf, "einfach vom Tresen mitgenommen." Vielleicht war der Dieb aber auch ein ebenso überzeugter Fan wie Göllner - der Doktor weiß es nicht. Was für ihn allerdings ganz sicher ist: Wenn er einen Nachfolger für seine Praxis gefunden hat, wird er sich seinen Traum erfüllen. Einmal in einer Saison alle Pflichtspiele von Schalke besuchen. Egal wo.