Seinen zukünftigen Arbeitsplatz kennt Alexander Gerst, 36, schon aus dem Effeff. Sieben Minuten bleiben ihm und seinen Kollegen im Notfall, um die Internationale Raumstation ISS zu verlassen. Sind alle in den beiden außen angedockten Sojus-Raumkapseln, wird die Sicherheitsluke geschlossen, und die Kapseln werden abgesprengt. Mit Karacho geht's dann nach unten. "Wir können in weniger als einer Stunde auf der Erde sein", sagt Gerst. Vorgemerkte Notlandeorte gebe es überall. In Frankreich zum Beispiel. Oder im Pazifik. Gerst erklärt das ganz nüchtern.
Seine Antarktis-Expedition, bei der er geophysikalische Experimente an einem aktiven Vulkan machte, sei gefährlicher gewesen, sagt er: Neuankömmlinge brachten immer eine Grippe mit. Und eine Stunde, um bei schlimmen Krankheiten aus der stürmischen Eiswüste in die Zivilisation zu gelangen - das ist eine Illusion. Da ist die ISS beinahe wie ein Ausflug vor die Haustür.
In eineinhalb Jahren soll Gerst als dritter deutscher Astronaut zur ISS fliegen. Und sechs Monate dort bleiben. Die Enge, der Lärm, das Essen - all das bereitet ihm keine Sorgen. Nur der Kontrollverlust macht ihm Angst. Doch der ist nicht vorgesehen. Für so ziemlich alles gibt es auf der ISS nicht nur einen Plan B, sondern auch Plan C, D und E. In einer nachgebauten Raumstation, die in einer riesigen Halle des Europäischen Astronautenzentrums in Köln steht, wird alles geübt, hundertmal, tausendmal. "Wenn Sie morgens um vier geweckt werden, weil ein Feuer ausgebrochen oder der Innendruck abgefallen ist, müssen Sie sofort wissen, was zu tun ist", sagt er.
Gerst macht den Eindruck, als wisse er, was zu tun ist. Ins All wolle er, "seit ich verstanden habe, was die Sterne sind". Geübt hat er schon als Kind, auf der Achterbahn, daheim in Künzelsau. "Ich hatte schon damals einen robusten Magen und werde wohl im Weltall auch nicht seekrank", sagt er. "Und wenn, dann gibt sich das nach ein paar Tagen, sobald sich mein Gehirn an die Umgebung gewöhnt hat."
Dass die Wahrscheinlichkeit für eine Astronautenkarriere ziemlich gering ist, war Gerst schon als Kind klar. Beworben hat er sich 2008 trotzdem, "weil ich dem Traum eine Chance geben wollte". Die Europäische Weltraumorganisation Esa hatte damals per Ausschreibung neue Astronauten gesucht. 8413 Bewerbungen gingen ein.
Eignungstest in der Wildnis
Der Anruf kam abends um neun. Gerst saß an seinem Schreibtisch in Hamburg, seine Doktorarbeit in Geophysik war in den letzten Zügen, er wollte gerade Feierabend machen und eine Runde Schwimmen gehen. "Als die Zusage kam, war ich am meisten überrascht", sagt er. Schwimmen gegangen sei er trotzdem.
Gepunktet hatte er bei der Bewerbung mit seiner Erfahrung im Antarktis-Zeltlager. Wer das aushält, kann gut mit Menschen. Früher wurde in der Raumfahrt nach Familienvätern Ausschau gehalten. Die seien verantwortungsvoller, hieß es. Und nach Testpiloten von der Luftwaffe. Die konnten mit der Technik umgehen. Gerst ist keins von beiden: Zivildienst hat er gemacht, unverheiratet ist er, kinderlos. Heute werden Wissenschaftler gesucht. So einer wie Gerst ist ideal: neugierig, kommunikativ, selbstbewusst, fit, Teamarbeiter. Alleingänge sind verpönt.
Auf die Probe stellten sie ihn trotzdem, schickten ihn mit russischen Kollegen in die Einsamkeit der Wälder von Sardinien, irgendwo im Nirgendwo. Fünf Tage ohne Nahrung - "da lernen Sie viel über sich und wie andere auf Sie reagieren". Zum Glück schweißt die Begeisterung für den Weltraum zusammen, das Wissen um das Besondere ihres Jobs. "Ich habe selten erlebt, dass man sich auf Anhieb so gut versteht", sagt Gerst. Auch wenn er dafür Russisch lernen musste. Das fand er mühsam.
Die wissenschaftlichen Experimente mag er lieber. Zum Beispiel das mit der "kleinen Erde": Um mehr über das Zusammenspiel von Erdkern und Erdkruste zu erfahren, nehmen die Astronauten ein handtaschengroßes Modell der Erde mit. An Bord werden dann Schwerkraft und magnetischer Pol simuliert. Oder auch mal ganz ausgeschaltet. Das geht auf der Erde nicht. Genauso wenig wie das Experiment mit den Metalllegierungen, die sich in der Schwerelosigkeit anders verhalten, was Geschmeidigkeit, Dichte oder Ausdehnungsverhalten anbelangt.
Zum Mars nur mit Rückflugticket
Alexander Gerst ist auch selbst Versuchskaninchen. "Wir testen, wie sich unser Gehirn in der Schwerelosigkeit verändert und Funktionen neu verteilt, wenn wir den Gleichgewichtssinn verlieren." Dazu werden Gersts Gehirnströme gemessen, während er an einem kleinen Computermonitor Aufgaben löst - am Anfang und am Ende der Mission, zur Kontrolle auch auf dem Boden.
Mediziner wollen mit den Erkenntnissen aus dem All neue Trainingsprogramme für Schlaganfall-Patienten entwickeln. "Was wir machen, sind alles friedliche Experimente", sagt Gerst. "Das ist auch gut so." Militärforschung machen andere an Bord, die Amerikaner, die Russen. Aber darüber macht er sich keine Gedanken. Bis zum Start hat er zu viel selbst zu tun.
"Die Vorbereitung macht einen Riesenspaß und könnte ruhig noch länger dauern", sagt er. Und mit einer noch längeren Vorbereitung würde er auch zum Mars fliegen. "Da gibt es keinen Astronauten, der nein sagt." Vorausgesetzt, es gibt ein Rückflugticket, damit er zu Hause von seinen Erlebnissen erzählen kann.
Von der ISS wird Gerst schon von Bord berichten - als Amateurfunker. Das ist wieder so ein Erlebnis aus der Kindheit, damals mit dem Opa, der mit wildfremden Menschen auf der anderen Seite der Erde reden konnte. Auf die Funkgespräche aus dem All freut er sich schon, besonders auf die mit Schulklassen. Die Hobby-Funker von Opas Verein aus Künzelsau haben sich auch schon angemeldet.