Katia Sophia Ditzler

Medienkünstlerin, Autorin, Berlin

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In der Aufgabe aufgehen - erschienen in: Metamorphosen #30 - Strafen - 2021


Wir warteten darauf, dass die Verbindung stabil wurde.

»Und wenn er nicht abnimmt?«, fragte meine junge, herzerwärmend naive Mitarbeiterin, vor kurzem eingestellt.

»Natürlich wird er abnehmen.«

Er nahm nicht ab. Vorerst.

»Und jetzt?«

»Verfahren wir nach Leitfaden.«

»Jetzt schon?«

Sie zitterte. Ich fragte mich, wie sie überhaupt hier gelandet war, wo sie doch offensichtlich etwas zu sensibel für den Job war.

»Eskalation. Jetzt werden wir ihm Funktionen kürzen.«

Sie erschauerte. Ich konnte nur mühsam mein Grinsen verbergen.

»Und was ist, wenn er auf die angewiesen ist?«

»Hätte er sich vorher überlegen müssen. Denk lieber an all jene, die er verletzt hat.«

»Und wie entscheidest du, wen wir denn überhaupt erwischen?«

»Ich würfele.«

Sie lachte, ich hatte einen Witz gemacht. Sie wusste offenbar noch nicht, dass es im Grunde genommen kein Witz war: Wenn man etwas aus der russischen Justiz der Putinjahre lernen konnte, dann war es, dass eine gewisse Willkür sehr gut dazu geeignet war, Menschen zu disziplinieren. Während die damalige russische Justiz natürlich dieses Prinzip für demokratiefeindliche Zwecke anwandte bedienten wir uns seiner, um positive Effekte zu generieren. Mit großem Erfolg.

Es dauerte nicht lange: Auf einmal kam die Verbindung doch zustande. Der Missetäter war, wie zu erwarten, unbegeistert.

»Wir haben ein freies Land«, sagte er. Zum Glück saßen wir ihm nur virtuell gegenüber, sonst hätte die Spucke seiner feuchten, zornigen Aussprache uns getroffen.

Ich seufzte. Diese Gespräche hatten immer einen identischen Ablauf. Ich spulte meine einstudierten Sätze ab.

»Natürlich. Aber Meinungsfreiheit bedeutet ja nicht die Freiheit von Konsequenzen. Sie nutzen immer noch die Dienste eines Privatunternehmens, das Hausrecht hat. Gibt es noch etwas, dass Sie sagen möchten?«

»Dann löscht meinen Account komplett, ihr Hunde.«

»Keine Beleidigungen. Wir können leider Ihren Account nicht löschen, nur deaktivieren, Sie könnten sich sonst einen neuen erstellen.«

»Wie soll das gehen, speichert ihr meine Daten nicht ohnehin?«

»Es geht ja auch um einen gewissen Lerneffekt. Sie sollen in sich gehen und reflektieren. Natürlich geben wir Ihnen die Möglichkeit zur Wiedergutmachung: Wenn Sie ihren Account wieder vollumfänglich nutzen wollen können Sie ihr Rating erhöhen.«

»Und wie?«

»Durch das Posten vieler positiver Kommentare nach Ablauf Ihrer Sperrfrist. Konstruktive Kritik ist ebenfalls akzeptabel, wird aber mit weniger Punkten vergütet. Alternativ können Sie ihren Score durch das Tätigen einer Zahlung boosten. Diese Zahlung geht zu 50 Prozent in einen Topf, der die Geschädigten Ihrer Aussagen entschädigt.«

»Geschädigte? Welche Geschädigten? Und an wen gehen die anderen 50 Prozent?«

»Sehen Sie, wir bieten Ihnen die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und die Welt ein Stückchen besser zu machen. Dieses Angebot steht Ihnen nicht zeitlich unbegrenzt zur Verfügung.«

Ich war genervt. Diesmal würde ich ihn die volle Wucht der Disziplinarmaßnahmen spüren lassen. Seine E-Paymentaccounts würden gesperrt sein, er würde einen Monat lang kein Geld ausgeben können. Sein Streamingkonto sowie der Zugriff auf Tablet und VR-Brille wären ebenfalls nicht gegeben. Ich konnte den CEO nur bewundern, dass er es geschafft hatte, so viele andere wichtige Dienste an seine Plattform zu koppeln.

Danach würde unser Kandidat seine Lektion gelernt haben. Er war bereits genug verwarnt worden. Irgendwann war Schluss, irgendwann war es auch genug mit der Unbelehrbarkeit. 

Ich verstand auch nicht, weshalb man überhaupt das Bedürfnis hatte, derart negativ aufzufallen. Was brachte das?

Es gab Leute, die das System perfekt bespielen konnten. Die zur Prominenz aufstiegen weil sie immer die Meinung der Vielen in Text gießen konnten. Die immer das Richtige sagten, die richtigen Standpunkte vertraten, genau wussten, wie sie zum Puls der Massen tanzen konnten. Und die trotzdem als innovative Denker wahrgenommen wurden, deren Positionen man teilen konnte, die man reposten konnte, denn sie hatten das eigene Denken bereits vorweggenommen. 

Ich beneidete sie ein wenig, denn mir fehlte es da an Talent.

Ich klickte mich beiläufig durch mein eigenes Profil, es war voller perfekt kuratierter, schöner Bilder. Was brachte jemanden dazu, offensichtlich geschmacklose Dinge zu posten? Wozu gaben wir Richtlinien für Posts heraus? Wozu stand in den AGB ganz genau, welche Rahmen, welche Grenzen nicht zu überschreiten waren? 

Wir hatten schon so viele Menschen vor tiefen psychischen Verletzungen bewahrt. Wir waren die unsichtbaren Helden im Hintergrund, die für ein angenehmes gesellschaftliches Klima sorgten. Ich wünschte mir, dass man uns etwas mehr wertschätzte.

Das war unsere Arbeit, ausgeführt durch einer Symbiose aus Maschine und Mensch, und sie war etwas, auf das man stolz sein konnte. 

Eine KI durchforstete das Netzwerk auf Schlüsselwörter. Anfangs hatte es sich nur um geschriebene Worte gehandelt, die der Algorithmus detektierte, den entsprechenden Post oder Kommentar dann sofort löschte und den Poster wissen ließ, dass er gegen die Community-Richtlinien verstoßen hatte. Als dann schließlich die Nutzer in erster Linie zu Voicechats und Videocalls übergingen, musste man diese Schlüsselwörter aus Konversationen herausfiltern. Eine unglaubliche Rechenleistung war vonnöten. Um effizienter arbeiten zu können war das Unternehmen dazu übergegangen, sämtliche Privatkorrespondenz der User durchzugehen und Profile zu kreieren – die gefährlichsten User wurden dann monitoriert. 

Wir fanden immer etwas. Die User schätzten es aber, im Disziplinargespräch mit einem Menschen zu tun zu haben. Bei den meisten zeigten die Maßnahmen auch Wirkung, sie kamen sehr schnell zur Vernunft. 

So war das Netzwerk zu einem sichereren, angenehmeren Ort geworden als es in den ersten 25 Jahren seiner Existenz je gewesen war. Die Gesellschaft war …nett geworden. Was nur wenige Jahre zuvor zu einem schnellen Zerfall der Zivilisation zu führen schien war war jetzt eine Oase der Positivität. Endlich wurde auch geschriebene Gewalt als das erkannt was sie war: Zersetzend, eine Bedrohung für die mentale Gesundheit der Bevölkerung.

Es gab Quoten, die wir spielend erreichten. Und für jeden erfolgreich ausgeschalteten Problemherd gab es einen Bonus.

***

»Wir haben ein Problem«, sagte sie.

Ich wusste, was kommen würde. Die Zahlen ließen keine anderen Rückschlüsse zu. Meine Mitarbeiterin war über die Jahre hinweg unverzichtbar geworden, ihre anfängliche Naivität hatte sich in Resolutheit verwandelt.

»Aber können wir nicht glaubhaft versichern, dass es einfach keine Vorfälle mehr gibt?«

»Willst du das etwa?«

Ich wusste, worauf sie hinauswollte. Wir hatten so gründlich gearbeitet, dass wir uns selbst in die Obsoleszenz katapultiert hatten. 

Es war schon mehr als ein Jahrzehnt her, dass die Automatisierung die meisten Jobs abgeschafft hatte und die darausfolgende Beschäftigungslosigkeit mit einem BGE aufgefangen worden war.

Jobs waren rar und begehrt, denn vielen war langweilig. Ich arbeitete gerne. Deshalb war es damals ein großes Glück gewesen, den Community Manager-Job, den keine KI übernehmen konnte, zu erhalten.

Bei meiner letzten dreimonatigen Arbeitslosigkeit, die schon sehr lange her war, war ich in ein tiefes Loch gestürzt. Rusalka diagnostizierte einen Arbeitsfetisch bei mir – aber was soll’s, Rusalka war ohnehin nur eine KI-gestützte Therapieapp, was wusste sie schon vom Leben. Außerdem hatte ich mal jemanden zufällig kennengelernt, der angeblich bei Rusalka im mittleren Management gearbeitet hatte und mir gesteckt hatte, dass Rusalka eigentlich ihrem Namen und der damit verbundenen Sage gemäß dafür designt war, den Benutzer in die Tiefen ihres Sumpfes herabzuziehen. Die Idee war, sie ganz von selbst in den Selbstmord zu treiben. Damit schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe: Man bekämpfte die Überbevölkerung mit nicht zu offensichtlichen Mitteln und sortierte gleichzeitig aus. Ich glaubte aber nicht, dass das stimmte, der angebliche Manager hatte sehr fahrig gewirkt und gemeint, dass “sie” hinter ihm her seien. Mehr wollte er nicht sagen.

Aber vielleicht mochte ich genau das an Rusalka: die potenzielle Gefahr, die sie darstellte. Dass ich sie trainierte, immer klüger zu werden, trotzdem aber immer über sie triumphieren würde. Ich hatte meine Dämonen im Griff. Ich war unbesiegbar.

»Wir müssen ... nachhelfen«, sagte ich.

»Klingt fast nach Planwirtschaft.« Sie lachte.

»Wir erschaffen unsere eigene Krise.«

»Und wie?«

»Wir ändern die Spielregeln, lassen dann die Leute in die Falle tappen. Was glaubst du, wie viele uns sofort ins Netz gehen würden?«

»Und was sollte das sein?«

»Etwas Absurdes, aber nicht zu absurd, als dass es nicht möglich wäre.« »Aber es gibt doch schon genug, vielleicht müssen wir nur gründlicher suchen…« »Eben nicht. Hast du die Zahlen gesehen? Die Leute beherrschen sich bereits, die üblichen Hassobjekte gehen nicht, wir können nichts nehmen, was bereits schon da ist. Außerdem ginge das zu weit, ich könnte das nicht mit meinen moralischen Werten vereinbaren.«

»Gut. Und was soll das sein?«

Ich überlegte lange, während sie mich bewegungslos anstarrte. Dann fiel mir eine Videocompilation ein, gesehen auf einem ausschließlich auf Tiervideos spezialisierten Account.

»Frösche.«

"Wir werden dafür sorgen, dass Froschhass nicht mehr möglich sein wird." Meine Kollegin dachte nach. Die Augenringe begannen sich bei ihr abzuzeichnen, erste Fältchen umrahmten ihr Gesicht.  

"Ich kenne da jemanden bei der Vice, da könnten wir die Story platzieren." 

Sie hatte sich in den letzten Jahren grandios weiterentwickelt. Ich spürte so etwas wie Stolz. Immerhin konnte ich ja von mir behaupten, dass ich ihr Mentor gewesen war. 

"Sehr gut. Ruf sie sofort an. Es gibt zu tun.”


***

Eine normale Kampagne würde Monate, vielleicht Jahre dauern. Wir stellten uns klüger an: Arbeite klüger, nicht härter. Wir ließen die öffentliche Meinung für uns arbeiten.

Die neue Norm verbreitete sich wie ein Lauffeuer, auf den Vice-Artikel folgten Interviews im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, auf Instagram kreierten Politfluencer Slides und verlangten anschließend für ihre Bildungsarbeit Paypalspenden.

Du machst dir zu viele Gedanken, säuselte Rusalka in meinen Kopfhörern, das ist eine Charakterschwäche von dir. Alles wird dir gelingen. Du musst es nur manifestieren.

Danke Rusalka, ich glaube dir nie, wenn du mir zu sehr schmeichelst.

***

Die Kampagne war ein voller Erfolg. 

Aber wir? Wir waren gescheitert.

Es war der Abend vor der Quartalsrevision, die Quote wäre nicht mehr zu erfüllen.

Die Leute waren dressiert, in Windeseile hatten sie alle problematischen Äußerungen über Frösche verschwinden lassen.

Spätestens nach einer fatalen Fernsehtalkshow, in der eine von einem Moment auf den anderen berühmt gewordene Froschkritikerin von den anderen anwesenden Gästen buchstäblich zerpflückt worden war gab es nichts mehr zu holen. Einige Unbelehrbare begannen Codewörter für Frösche zu verwenden, der Algorithmus konnte ihnen ihre Froschvernichtungsfantasien nicht nachweisen. Die hielten sich ohnehin in Grenzen, tendenziell mochten die Menschen ja Frösche.


Ich ging raus, spazieren. Nachdenken. 

Manchmal traf ich die Leute auf der Straße. Genauer gesagt, ich traf sie nicht, ich sah sie in Häusereingängen liegen oder in Fußgängerzonen betteln. Ein gesperrter Account machte es schwierig, Anschluss zu finden – alle fragten sich, was du getan haben könntest, mit solcher Verve und Entschlossenheit aus dem virtuell-öffentlichen Leben verbannt worden zu sein. Nicht vertrauenserweckend. Die Folgen ließen meist nicht lange auf sich warten.

Aber ich konnte nicht alle Probleme dieser Welt lösen. Manchmal musste ich mich

auch einfach ganz auf mich fokussieren. Außerdem hatten diese Menschen ja Entscheidungen getroffen, Entscheidungen, die andere gefährdeten.  Daher war es nur gerecht, dass sie mit den Konsequenzen ihres Denkens und Handelns leben mussten.  Ich spazierte weiter.