Katharina Wasmeier

Freie Journalistin, Autorin, Lektorin, Nürnberg

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Dorthin gehen, wo's wehtut

Seit einigen Jahren schon marodiert die Kunstfigur Alcotronic durch Nürnberg und die Trinkerszene. In schmerzhaften Musikvideos piekt der Mann mit Dosenmaske mit wenig Aufwand und viel Hintersinn meist dorthin, wo’s wehtut: Richtung Leber und Tristesse. Mit dem künstlerischen Gemeinschaftsprojekt „Langwasser Song“ ist ein kleines Meisterwerk gelungen – und ein Stich ins Wespennest.

„Gemarkung 3440 – im Gemeinschaftshaus ist alles toll!“ Mit krasser Klamotte und sanfter Stimme besingt Eve Hardcore die Vorzüge des südlichen Nürnberger Stadtteils – vermeintlich, denn dass „am Langwassersee alles voll“ ist, vielleicht nicht richtig stimmt und „in Neuselsbrunn alles toll“ womöglich auch eher eine Wunschvorstellung, zeigen mindestens die Bilder der hochprofessionell geführten Kamera, die Eve Hardcore auf ihrem Spaziergang durchs Viertel begleitet. Gemeinsam mit Alcotronic, dosenmaskierter Grimm mit großem Durst, wird die Hood erkundet. Und gelehrt: „Trabantenstadt in der Umlaufbahn – was hier passiert, geht niemand was an!“ Es ist ein irres Spannungsfeld, in dem die Figuren sich bewegen, aus betonierter Tristesse und Einsamkeit, aus Baustellen und öden Sandkästen, vor allem aber auch aus einer respektvollen Ehrfurcht, die die Protagonisten an den Tag legen. Manchmal. Wenn sie zum krachenden Beat nicht grad Hochhäuser zertrümmern oder Zwergenhunde tätscheln, Dosen öffnen oder sich im Fußballtor verheddern. Eine Hymne für Langwasser, bittersweet Symphony, zum Wegschmeißen komisch – und dabei so, ja: bierernst. Eva Hardcore heißt eigentlich Eva Nüsslein, ist Künstlerin und Leaderin der Band Ambiviolenz. „Den Gerry“, sagt sie und meint Gerry Schuster, den hat sie entdeckt letztes Jahr – und war begeistert. Denn „der Gerry“ kultiviert seit einigen Jahren die Kunstfigur „Alcotronic“, ein Wesen mit schlechter Laune und großem Durst, mit blitzenden Augen und starrem Blick, den er zielsicher dorthin richtet, wo Nürnberg keine Schokoladenseite hat, höchstens eine mit Omas Schokotraum und Edlen Tropfen. „Prekäre Alkoholikerszene“, sagt Gerry Schuster, und „Trinker-Tristesse“, die er mitnichten verspotten will, sondern satirisch-sozialkritisch beleuchten. Es ist ein Kunstprojekt mit langem Atem, das Gerry Schuster vor gut drei Jahren aus der Taufe gehoben hat. Schuster, Grafikdesigner und aktiver Cineast im Kommkino, begeistert und engagiert sich nicht nur für Comic und Malerei, sondern vor allem für Film und Schnitt, für Animation und Drehbuch, für alles, was es kann, dieses Genre, das mit der Sondersparte Trash und SchleFaZ eine große Kultgemeinde hat. Dort oben im Filmhaus hört der 47-Jährige dann auch Marvin Games‘ „Kiffer“, einen Rapsong, der die grünen Wolken preist. Seltsam, dachte Schuster und auch: Da krieg ich Lust, das zu parodieren. „Aus Gaudi“ textet er das Stück um, ersinnt dabei – wenn schon, denn schon – eine Superheldenfigur in bester Sido- oder Cro-Manier und dreht mit keinen Mitteln ein Video: „Trinker“ ist brachial und tut weh; nicht nur wegen des Beats. Das Stück kommt saugut an, die Faxemaske auch, Gerry Schuster hat fortan ein eigenes Projekt. „Aufseßplatz“, „Karlskrone Delirium“ und „reduzierte, der NDW angelehnte Texte, die es auf den Punkt bringen“, die kombiniert Gerry Schuster mit verschiedenerlei Sounds von hier und da und macht videvidevideo, wie es ihm gefällt. Verschiedenste Koops. Mal Stop-Motion. Mal One-Take. Mal Handykamera. Mal Super 8. Super Sache! Finden auch die Akademie-Musiker von „Ambiviolenz“ und – covern und performen „Trinker“ als Rocknummer beim Kunstfest auf AEG. Fortan gibt’s Duette mit der Frontfrau Eve Hardcore: „Oettinger Vibrations“ übers Billigbier mit Kultstatus und eigenem YouTube-Kanal, „Ibu1000“ als der musifizierte Kater des Spiegeltrinkers („Ich brauch keine Medizin, Bier ist mein Ibuprofen, um den Tag noch durchzustehen“). Bei den Dreharbeiten zum Salzburger Frankenkrimi „Todsicher“ lernt Gerry Schuster Regisseur Lorenz Wetscher kennen. Schnell ist klar: Wir machen was gemeinsam. Und zwar richtig! Was in dem Fall heißt: Konzept, Storyboard, Dispo, Make-Up, Beleuchter. Drehtag und -nacht, die Motivauswahl oft geplant, manchmal zufällig, wenn sich der Langwassersee als Tümpel statt des vermuteten Badesees herausstellt, Passanten spontan miteingebunden werden oder Hundchen, und immer die Prämisse „Wahre Schönheit verbirgt sich nur hinter graue Betonwänden.“ Dabei herausgekommen ist ein prächtiges Stück Musikvideo mit „schrägem, aber sympathischen Kontrast zur Trabantenstadtästhetik“ ohne Spott und Häme, wie Schuster und Eva Nüsslein betonen, denn im Langwasser-eigenen TV-Kanal war der Ärger groß. „Es liegt uns fern, uns aus einer elitär-akademischen Position heraus lustig zu machen“, so die Künstler. Sozialkritik und Satire, vor der nichts sicher zu sein scheint. Mit DJ Bobby, der bereits in mehreren Produktionen mitwirkte, entstand unlängst „Kreuzung an der Frankenstraße“ („Hier wohnt man mit dichten Fenstern, damit schläft man besser ein“), derzeit wird mit „Saufmaschine“ die Absatzfixierung der Getränkeindustrie angeprangert. Saukomisch. Und bierernst.


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