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Warum wählen?

Karl Nagel mit seiner Tochter Annabelle.

Karl Nagel ist mit seinem Latein am Ende: "Ich habe das Gefühl, egal was ich wähle, es ist sowieso das Falsche. Die Politiker widern mich an, weil ich das Gefühl habe, dass sie mir nur noch als Masken begegnen." Ob und was er bei der Bundestagswahl 2013 gewählt hat, weiß er nicht mehr. "Ich möchte kein Politiker-Bashing betreiben, finde mich aber in diesem Politiker-Zirkus nicht wieder. Es gibt Ausnahmen, wie Joschka Fischer, Heiner Geißler oder Gregor Gysi, aber die sind eher selten", führt der Punker und Webentwickler aus.

"Daraus ist die Idee entstanden, für meine Tochter zu wählen, die erst 14 Jahre alt ist und somit nicht selbst wählen kann", erzählt der 56-Jährige. "Ich fände das eine gute Idee, wenn das mehr Menschen machen würden", sagt Nagel. Was er für seine Tochter wählt, verrät er jedoch nicht.

Jan R., der nicht mit ganzem Namen in der Zeitung stehen möchte, hat nicht gewählt. Er ist 25 Jahre alt und es ist das erste Mal, dass er von seinem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht hat. »Sonst habe ich die LINKE gewählt«, erzählt Jan. In letzter Zeit habe er jedoch viel Arbeit gehabt und sich kaum mit dem Wahlkampf beschäftigt. Und dann war Jan am Wahltag zu Besuch in Berlin und hatte keine Briefwahl beantragt.

Jan hat keinen Fernseher und liest auch keine Zeitung. Manchmal unterhält er sich mit Freunden über Politik. Was er vermisst, ist eine Bildungspolitik, die es Schülern erlaubt, »sich auch mal mehr auszuprobieren«. Seiner Meinung nach beenden viele die Schule, ohne zu wissen, was sie wirklich machen wollen. Überraschend findet er an den Wahlergebnissen, »dass die AfD so stark geworden ist. Das ist krass.«

Nagel kann mit der allgemeinen Kritik an der AfD hingegen nicht so viel anfangen: »Ich stehe der AfD nicht nahe, habe aber das Gefühl, dass es zu einer moralischen Frage geworden ist. Man muss praktisch gegen die AfD sein. Ich denke, der Umgang mit der AfD hat sie überhaupt erst groß gemacht«, findet er.

Zudem hat er ein generelles Problem mit Politikern. »Die meisten Politiker lassen einen als Menschen komplett kalt«, sagt Nagel.

Denece Cheney kann diese Position nicht verstehen. »Ich finde, wir haben sehr gute Politiker«, sagt die 37-Jährige. Beispielsweise findet sie Sigmar Gabriel (SPD) glaubwürdig. »Ich finde es schade, dass er nicht die Kanzlerkandidatur übernommen hat.« Vermisst habe sie in diesem Wahlkampf harte Diskussionen. »Die Grünen und Linken haben nicht so kritische Fragen gestellt, die Grünen haben besonders an Kraft verloren«. Sie habe beide Stimmen der SPD gegeben, weil es sich »richtig angefühlt« habe und weil sie mehrere Politiker in der Partei kenne und wisse, wen sie wähle. Dennoch habe sie im Wahlkampf ein klares Bekenntnis der SPD zu Rot-Rot-Grün vermisst.

Überrascht ist Cheney von der Gleichgültigkeit, die sie gegenüber dieser Bundestagwahl wahrgenommen hat. »Vor vier Jahren haben alle gespannt auf die Hochrechnungen gewartet. Dieses Jahr habe ich das nicht so erlebt«, sagt sie. Die junge Frau macht sich viele Gedanken über die Rente. Leute, die nicht wählen gegangen sind, kann sie nicht verstehen. »Ich war heute auch kaputt, aber ich habe mich gezwungen, wählen zu gehen.«

Auch wegen des Erfolges der AfD sei es wichtig gewesen, sich an diesen Wahlen zu beteiligen. Cheney kennt jemanden, der die AfD unterstützt: »Ich kann diese Person nicht verstehen, weil ich denke, dass die AfD gefährlich für alle ist.« Seit ein paar Monaten nehme sie stärkere kulturelle Spannungen war, erzählt Cheney, deren Vater Chinese ist. Sie selbst lebt seit zehn Jahren in Deutschland. Für den Auftrieb der Rechtsaußenpartei macht sie schlechte Arbeitsverhältnisse verantwortlich. »Die Menschen haben Angst und können keine Energie aufbringen, um andere zu verstehen«.

Der Punker Nagel denkt, dass die zunehmende Anonymität durch das Internet zu Politikverdrossenheit führt und die Unterstützung von rechten Position ansteigt. »Man kann diese Anonymität schon in Großstädten erleben. Dort werden Mülleimer umgestoßen, in einem Dorf passiert das nicht so schnell, weil es nicht so eine große Anonymität gibt.« Früher war Nagel selbst in der Anarchistischen Pogo-Partei-Deutschlands aktiv und kandidierte 1998 sogar für die Kanzlerschaft. Nach Streitereien trat er 2005 aus der Partei aus. »Ich denke, dass ein Internetausfall hilfreich wäre, damit wir uns wieder mehr begegnen und miteinander reden«, überlegt Nagel. »Wenn man im Internet ist, verliert man völlig das Gespür dafür, was wahr oder falsch ist. Ich habe das Gefühl, dass die Gesellschaft da gerade ziemlich gegen die Wand fährt.«


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