Julia Wenzel

Redakteurin bei "Die Presse" , Wien

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Eine Wahl ohne Wähler


Die EU und ihre Bürger - eine Beziehung auf Distanz. Deutlich wird das vor den Wahlen zum Europäischen Parlament, die Ende Mai zum neunten Mal stattfinden. Die Wahlbeteiligung sinkt, das mediale Interesse bleibt verhalten. Eine neue Kampagne soll das ändern.

Von Julia Wenzel

Sie beeinflusst unser Leben, ihre Entscheidungen sind Teil unseres Alltags: Die EU und ihr Parlament sind ein wichtiger Teil unserer Realität. Dennoch sinkt die Wahlbeteiligung bei EU-Wahlen stätig, 2014 stimmten lediglich 43 Prozent aller Wahlberechtigten ab. Das Europäische Parlament sah sich nun gezwungen, zu reagieren: In den nationalen Verbindungsbüros arbeitet man seit mehr als einem Jahr daran, die Europäer am 26. Mai in Wähler zu verwandeln. Jungwähler und Influencer „Wir wollen einfach mehr Leute erreichen", sagt Jill Knöper, PR-Koordinatorin der Info-Kampagne #diesmalwähleich im Verbindungsbüro des EU-Parlaments in Berlin. „Wir hoffen, dass unsere Unterstützer ihr Netzwerk mobilisieren, an das wir sonst schwer herankommen." Seit Anfang des Jahres promoten die Parlamentsbüros aller 28 Mitgliedsstaaten die Kampagne. Parteipolitisch unabhängig soll damit die europaweit sinkende Wahlbeteiligung erhöht und möglichst viele (Jung-)Wähler motiviert werden, selbst aktiv zu sein. Plakate aufhängen, Flyer verteilen oder auf Social Media Videos und Fotos posten - in der Uni, in der Schule, im Sportverein „hat das vielleicht einen größeren Einfluss". Influencer sind Teil des Netzwerks. Mit dem Launch eines offiziellen Kampagnen-Videos am 25. April erhofft man sich noch mehr Aufmerksamkeit. Die lasche Wahlbeteiligung ist ein Paradoxon: Obwohl jeder Europäer immer direkter von den Entscheidungen des EU-Parlaments betroffen ist, sinkt die Partizipation. Das war nicht immer so: An der ersten EU-Direktwahl 1979 nahmen 66 Prozent der wahlberechtigten Deutschen teil, in Frankreich waren es knapp 61 Prozent. In den Jahren danach sank die Teilnahme jedoch drastisch. Seit 1999 liegt sie fast flächendeckend unter 50 Prozent, 2014 stimmten lediglich 43 Prozent aller Wahlberechtigten ab. Zwischen den Mitgliedstaaten gibt es große Unterschiede: Schlusslicht war 2014 die Slowakei mit mageren 13 Prozent, während in Belgien (wegen der Wahlpflicht) 90 Prozent, in Malta (ohne Wahlpflicht) 75 Prozent den Weg in die Wahlkabine auf sich nahmen.

© Grafik: Julia Wenzel, Quelle: Europäisches Parlament, Erstellt mit Datawrapper

Experten verorten die Ursache in der fehlenden Personalisierung des Wahlkampfs. Mit der Ernennung "europäischer Spitzenkandidaten" wie Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP) und Frans Timmermanns bei den Sozialdemokraten (S&D) will man zwar die Politiker ins Scheinwerferlicht rücken. Ein Monat vor der Wahl spürt man dennoch wenig von europaweiter Wahlkampfstimmung - auch in Deutschland nicht. "Der Faktor, der das letzte Mal leicht stabilisierend gewirkt hat, war die Personalisierung und der Deutschlandbezug durch Martin Schulz", sagt Bettina Westle, Professorin für empirische Demokratieforschung an der Philipps-Universität Marburg. Trotz deutschem Spitzenkandidaten Weber habe das Attribut "an Neuigkeitswert verloren". Die niedrige Beteiligung in den östlichen Mitgliedsstaaten erklärt die Professorin mit fehlendem Pflichtgefühl. Die EU sei "den Bürgern in diesen Ländern noch sehr fremd", eine "europäische Identität erst schwach ausgebildet". Doch mutiert die EU-Wahl auch andernorts zur Protestwahl, um ungeliebte Entscheidungen vor allem der eigenen Regierung abzustrafen. In der Politikwissenschaft gelten sie deshalb auch als "Nebenwahlen", vergleichbar mit den Midterm Elections in den USA.

© Grafik: Julia Wenzel, Quelle: Europäisches Parlament, Erstellt mit Datawrapper

Teufelskreis des Desinteresses

Die schwache Beteiligung sei aber nicht Ausdruck einer EU-Skepsis, sondern die Folge eines teuflischen Triangels aus parteilichem, medialem und persönlichem Desinteresse. Parteien würden die Institution des EU-Parlaments zu wenig ernst nehmen, wie Personal- und Listenerstellung mit vielen unbekannten Kandidaten aufzeigen. Zudem sei das Budget für den Wahlkampf klein, der Wettbewerb schwach. Durch fehlende europäische Wahllisten bleibe dieser auf einer nationalen Ebene hängen. Hinzu kommt eine defizitäre Medienberichterstattung: Das Parlament wird spärlich thematisiert, Kommission und Rat dominieren. „Die Medienagenda spielt eine Rolle dafür, wie stark die EU-Wahlen wahrgenommen und als wichtig oder irrelevant gesehen werden", sagt Westle. Gerade in Frankreich wird das fehlende Medieninteresse beklagt. „Allerdings ist die EU-Wahl im Vergleich zur nationalen Wahl auch in Deutschland eher ein Stiefkind". Die nationale Perspektive dominiert die Berichterstattung, die Wahlen werden als Mittel zum Protest gegen Regierungen benutzt. Das führt wiederum zu einem geringeren Engagement der Parteien - ein Teufelskreis.

Was passiert, wenn dieser nicht durchbrochen wird, ist in Großbritannien sichtbar. Jahrzehntelange, negative oder gar fehlende Berichterstattung ließ die EU-Skepsis in der Bevölkerung ungebremst wachsen, die Wahlbeteiligung kam auch im Jahr des EU-Beitritts nicht über 32 Prozent. Für die EU-Wahlen im Mai zeichnet sich nun eine Polarisierung zwischen pro- und anti-europäischen Kräften ab, deren Effekte der aktuelle Eurobarometer bereits misst: 67 Prozent der EU-Bürger denken, dass Parteien, die gegen die politische Elite protestieren, Grund zur Sorge sind, 39 Prozent sehen politischen Extremismus als größte Gefahr für die EU. 55 Prozent sind hingegen der Meinung, die EU bringe Stabilität. Die allgemeine Zufriedenheit steigt, in osteuropäischen Staaten wird die deutliche Verbesserung der Lebensstandards geschätzt. Dennoch sehen viele die Zukunft der EU pessimistisch: 56 Prozent der Griechen und 50 Prozent der Franzosen sehen pessimistisch in die Zukunft der EU, die einzigen beiden Staaten, in denen man mehrheitlich negativ eingestellt ist. Anders in Deutschland, wo 67 Prozent der Zukunft optimistisch gegenüberstehen.

Dass sich die hohe Zufriedenheit letztlich auch in einer höheren Wahlbeteiligung zeigt, ist Ziel der Infokampagne. „Das ist natürlich unsere große Hoffnung", sagt Knöper. Es sei toll, „dass sie von den Bürgern getragen wird." Die Kreativität der Unterstützer sei beeindruckend. So sei geplant, Bewohner von Altersheimen mit Fahrrad-Rikschas in Wahllokale zu fahren. Ob sich der Aufwand am Ende lohnt? „Wir sind froh, dass wir diesen Unterstützerkreis auch nach der Wahl nutzen können", sagt Knöpe. Das sei schon eine Belohnung. „Dass vor allem junge Leute ein nachhaltiges Interesse entwickeln, was wir auch verfolgen werden." Denn die nächste EU-Wahl kommt bestimmt.

Autor

Julia Wenzel ist freie Journalistin. Sie schreibt hauptsächlich über europäische, politische und wirtschaftliche Themen.

Copyright: Goethe-Institut

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