24 Stunden auf dem Motorrad, immer am Limit: Für die Fahrer ist das Langstreckenrennen von Le Mans eine Grenzerfahrung - auch weil ihnen an der Strecke mehr als 70.000 Menschen zuschauen. In diesem Jahr bekam das Publikum ein besonders spannendes Finale zu sehen.
Ungläubig steht der Mechaniker vor dem Boxen-Bildschirm. Was sich kurz nach dem Start des Motorrad-Langstreckenrennens von Le Mans abspielt, kann er kaum fassen. Wie beim berühmten Autorennen messen sich die Teilnehmer hier über eine Renndauer von 24 Stunden. Aber schon nach wenigen Runden beharken sich die beiden Führenden, Vincent Philippe vom Suzuki SERT-Team, und Grégory Leblanc vom Team SRC Kawasaki, als würden sie auf die Zielflagge zurasen. "Klassischer Fall von Rennwahn", lautet die Diagnose des Mechanikers. "Die haben doch noch alle Zeit der Welt."
Für Vincent Philippe rächt sich der furiose Auftakt. Nach 14 Minuten rutscht der Suzuki-Fahrer auf dem Circuit Bugatti - wie die Motorradstrecke in Le Mans offiziell heißt - übers Vorderrad weg und stürzt ins Kiesbett. Der Franzose bleibt unversehrt. Aber seine Maschine ist beschädigt: In der nächsten Stunde muss die 1000er GSX-R mehrfach in die Box. Bis sie wieder einigermaßen rund läuft ist Suzuki SERT, bis dahin sicherer Aspirant auf die Endurance-Weltmeisterschaft, auf den drittletzten Platz unter 56 Startern abgerutscht. Die Titelhoffnungen des Teams sind zu diesem Zeitpunkt futsch.
Millionen im Kiesbett versenkt
Für Suzuki ist das der Renn-GAU. Denn während die Fahrer und Teams bei vielen Straßenrennen wie zum Beispiel der Internationalen Deutschen Meisterschaft (IDM) unter sich bleiben und vor fast leeren Rängen auftreten, ist die Veranstaltung in Le Mans ein Massenspektakel. 70.000 Besucher sind am Rennsonntag an der Strecke, das Fernsehen überträgt live. Hier geht es, so sagen die Hersteller, um die Glaubwürdigkeit bei den Marken-Fans - und damit um potentielle Kunden. Auch in der Motorrad-Branche gilt der Spruch: Win on Sunday, Sell on Monday.
"Vor allem unsere Kunden in Frankreich und Südeuropa verbinden Suzuki stark mit Rennsport", sagt Akira Kyuji, der bei dem Hersteller fürs weltweite Marketing zuständig ist. "Auch wenn sie selbst nur einen Roller fahren, wollen sie uns bei Veranstaltungen wie der Endurance WM gewinnen sehen."
Das Engagement hat seinen Preis. Die Kosten für die Spitzenteams der japanischen Hersteller oder BMW, die um den Titel mitfahren, sind im Vergleich zur Königsklasse MotoGP zwar moderat, aber sie bewegen sich immer noch im siebenstelligen Bereich. Für Suzuki SERT wurde 2013 ein Gesamtbudget von über zwei Millionen Euro locker gemacht.
Per Autopilot durch die Dunkelheit
Geld ist bei Langstreckenrennen wie in Le Mans die eine Sache - Glück die andere. Das wird spätestens nach 13 Stunden, kurz vor vier Uhr morgens, wieder mal deutlich: Yamaha YART, das zweitplatzierte Team im Gesamtklassement, fällt mit einem kapitalen Motorschaden aus. Damit ist Suzuki wieder im Rennen, obwohl das Team auf Platz 32 weit hinterherfährt.
Nur wenige Zuschauer bekommen das jetzt noch mit. Die Buden und Trinkhallen sind zu. Wer noch nicht eingeschlafen ist, ist besoffen. Oder beides.
Die Stunden zwischen Mitternacht und aufgehender Sonne sind zäh wie Gummi, sagen die Fahrer. Die Scheinwerfer ihrer Maschinen stochern im Dunkeln und sind keine große Hilfe. Gefahren wird auf der rund vier Kilometer langen Strecke jetzt nach Erinnerung. Der Rhythmus und die Bremspunkte haben sich im Gehirn eingebrannt. Die Rundenzeiten sind trotzdem kaum langsamer als tagsüber: Spitzenfahrer lassen bei Geschwindigkeiten um die 280 km/h nachts nur zwei oder drei Sekunden liegen.
Gefährlich ist neben der körperlichen Beanspruchung die Monotonie, die an der nötigen Konzentration nagt. Sie kommt zwangsläufig, obwohl die drei Fahrer pro Team sich alle 50 bis 60 Minuten ablösen, wenn die Maschinen nachgetankt werden müssen. Nach etwa zwölf Stunden Renndauer muss wieder einmal das Safety Car raus. Diesmal hat es fünf Fahrer bei einer Karambolage erwischt. Simon Andrews vom Team TT Legends wird mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert.
Meistens gehen die Stürze glimpflicher aus. Am meisten fürchten sich die Teams deshalb vor unkalkulierbaren Defekten am Fahrzeug. Sie machen die mühsame Arbeit auf einen Schlag zunichte. Als der Morgen graut, hat das Team BMW Motorrad France das Rennen neun Stunden lang angeführt. Berti Hauser von BMW Deutschland war guter Dinge: "Heute könnt es klappen." Dann: Getriebeschaden - das Aus.
Von Hamburg nach Rom und zurück
Kurz vor dem Ende des Rennens um 15 Uhr brennt die Sonne erbarmungslos. Die lange Zeit verwaisten Tribünen am Circuit Bugatti sind wieder voll besetzt. Die Besucher sind offensichtlich wieder zu Kräften gekommen. Die Fahrer dagegen sind am Ende.
Zieleinlauf: Das Gewinner-Team von SRC Kawasaki hat an diesem Tag 820 Runden und fast 3500 Kilometer auf der Uhr. Das entspricht ungefähr der Strecke von Hamburg nach Rom und zurück. Immer Vollgas, nonstop.
Team Suzuki SERT hat sich mit beschädigtem Kurbelgehäuse und durchgebrannter Zylinderkopfdichtung ins Ziel geschleppt. Platz 26 reicht zu mickrigen fünf Pünktchen Vorsprung im Gesamtklassement und zum Gewinn der Endurance-WM. Den Sieg schenke man den "treuen Fans", heißt es anschließend bei Suzuki. Die werden sich freuen - aber ob damit die Verkaufszahlen steigen? Klassischer Fall von Rennwahn.
Jochen Vorfelder ist passionierter Motorradfahrer. Er berichtet seit Jahren über die Bike-Szene und betreibt das Blog Moto1203. In der Rubrik Schräglage berichtet er für SPIEGEL ONLINE regelmäßig über die neuesten Zweirad-Entwicklungen. Alle bisher erschienen Schräglage-Folgen
Zum Original