Jan Ludwig

freier Journalist, Autor und Faktenchecker

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Reportage

Die Reise nach Jerusalem

Kein anderer prägte Jerusalem um 1900 so sehr wie ein Deutscher: Kaiser Wilhelm II.
 
Eine riesige Staubwolke wirbelt die Karawane auf, die da am 28. Oktober 1898 durchs Heilige Land zieht: 1300 Pferde und Maulesel, 230 Zelte, mehr als 100 Wagen, darin Köche und Generäle, Kellner und Minister, Hofdamen und Übersetzer. Die türkische Kavallerie reitet vorweg, dahinter die deutsche Leibgarde, dann, mit khakifarbener Tropenuniform und silbernem Helm: der deutsche Kaiser Wilhelm II. Mehr als 30 Grad herrschen in diesen Tagen – im Schatten, den es nicht gibt. In Wagen 12 schwitzt der für die Außenpolitik zuständige Minister Bernhard von Bülow. Einen »Platz an der Sonne« hat er einige Monate zuvor für die Deutschen verlangt: Aber so sonnig müsste der Platz nun auch nicht sein.

Die Orientreise des letzten deutschen Kaisers, seit zehn Jahren an der Macht, ist die tollkühnste Tour des Monarchen. In Konstantinopel hat sich Wilhelm wenige Tage zuvor vom Sultan verabschiedet. Über den »kranken Mann am Bosporus«, das schwächelnde Osmanische Reich, haben sie geredet. Über ein Bündnis ihrer Mächte, den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, die deutschen Siedler in Palästina. Nun will der Kaiser sich ein Bild von diesem kargen Streifen am Mittelmeer machen. Mehr als drei Kilometer lang zieht sich sein Tross von Haifa aus durch das Land, über sandige Wege und frisch gebaute Brücken. Der Staubwolke voran reitet John Mason Cook, der Reiseleiter, Sohn des Tourismus- Erfinders Thomas Cook. Auf dem Rücken seines Maultiers prangt die rote Fahne von »Thos Cook & Son«. Als ein französischer Reporter den imperialen Bandwurm erspäht, nennt er Wilhelm schelmisch den »Cook-Kreuzfahrer«. Als Kreuzfahrer hatte ein Kaiser 670 Jahre zuvor dieses Land betreten, um Jerusalem in Besitz zu nehmen. Wilhelm kommt als Pilger – und als Handlungsreisender der Konfessionen. Den Katholiken im Land wird er ein Klostergrundstück bringen, den Lutheranern ihre erste große Kirche, den Pietisten aus Württemberg immerhin seinen Segen.

Doch niemand wird ihn in Palästina hoffnungsfroher erwarten als ein Jude aus Wien. Auf halbem Weg zwischen Jaffa und Jerusalem steht am Straßenrand ungeduldig der Mann, der all seine Hoffnung in den Kaiser setzt. Der Journalist, 38 Jahre alt, hat den nur um ein Jahr älteren Wilhelm bereits in Konstantinopel getroffen und um Hilfe gebeten, dann ist er ihm nach Palästina nachgereist. Als er nun den Kaiser in seiner Uniform zu Pferde erblickt, lässt er einen jüdischen Kinderchor »Heil dir im Siegerkranz« anstimmen, die Kaiserhymne. Dann zückt er seinen Tropenhelm.
Der Mann ist ...
http://www.merian.de/ausgaben/jerusalem-012016