Es gibt ein ukrainisches Thema, das ich meistens meide. Es ist der Holodomor, die von Stalin organisierte Hungersnot, die fast die ganze Ukraine 1932-1933 erfasste. Seit Kurzem stelle ich mir immer wieder die Frage: Warum tue ich das?
Der Holodomor war eine Folge von Industrialisierung und Kollektivierung der UdSSR, aber auch eine Strategie, mit der der Kreml die Widerstandskraft der ukrainischen Dörfer brechen wollte. Der Journalist Jens Mühling bringt es in seinem Buch „Schwarze Erde“ lakonisch auf den Punkt: „Die Schwarzerde der Ukraine zählt zu den fruchtbarsten Ackerböden des Planeten. Der Holodomor war eine der widersinnigsten Katastrophen der Geschichte.“
Ich habe Verordnungen der Kommunistischen Partei gelesen, in denen die Maßnahmen beschrieben wurden, mittels derer man den Bauern die Lebensmittel wegnehmen sollte. Ich habe Photographien gesehen, die ausgemergelte Leichen am Straßenrand liegend zeigen, Kinder wie Erwachsene. Der Holodomor war eines der zentralen Themen im Geschichts- und Literaturunterricht in der Schule. Und doch hatte ich jahrelang das Gefühl, er hätte nichts mit mir zu tun. Bis zum letzten Sommer.
Eher beiläufig hat mir mein Vater erzählt, dass in den Dreißigern die Hälfte der Kinder in der Familie seiner Großeltern an Hunger gestorben sind. Von den 10 Geschwistern meines Großvaters haben nur 5 überlebt, also 6 Kinder von 11. Das ukrainische Institut der nationalen Erinnerung geht davon aus, dass 23,7 bis 31,8 Prozent der damaligen Einwohner des Kiewer Gebiets, in dem meine Vorfahren lebten, vom Hunger dahingerafft wurden.
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