Zwei junge Männer, beide haben albanische Wurzeln. Der eine wird zum Terroristen und erschießt den anderen. Eine Nacht in Wien, die eine verstörte Community hinterlässt.
Ademsafi Bajrami zündet eine Kerze an und stellt sie mitten hinein in den leuchtenden Teppich aus Hunderten Lichtern vor der Kaktusbar. "Eintritt ab 18 Jahren", steht an der dunkelgrün lackierten Tür. Der Imam Ademsafi Bajrami hebt die Arme zum Gebet, der Priester neben ihm faltet seine Hände. Beide führen an diesem Abend den Trauerzug der albanischen Gemeinde in an. "Für den Terroristen wäre auch ich ein Ungläubiger gewesen", sagt der Imam. Er steht in der Seitenstettengasse in der Wiener Innenstadt und betet an jenem Ort, an dem sich der erste islamistische Terroranschlag in der Geschichte Österreichs ereignete. Hier, vor der Kaktusbar, feuerte der Täter am Montagabend Schüsse ab. Die Plakate an den Fenstern wirken wie aus der Zeit gefallen: "Die Bar ist gefüllt. Das Lokal auf Hochglanz und wir sind gut drauf!", steht dort. Noch hat sie niemand abgenommen.
Die Kaktusbar ist eine Party-Institution im Wiener Nachtleben. Sie liegt im sogenannten Bermudadreieck, einem bekannten Ausgehviertel nahe am Donaukanal. Generationen von Wienerinnen und Wienern haben hier ihre ersten Schnäpse, Bacardi-Colas oder Cocktails getrunken, kein Touristenführer kommt aus, ohne auf das Ausgehviertel zu verweisen. Das Bermudadreieck zieht pubertierende Jugendliche an, genauso wie Anzug tragende Manager oder Junggesellenabschiede. Auch am vergangenen Montag waren hier viele Wienerinnen und Wiener unterwegs, um die letzten Stunden vor dem Lockdown zu genießen.
Zwei von ihnen standen sich an diesem Abend gegen 20 Uhr in der Wiener Innenstadt gegenüber. Der eine, Nexhip V., hatte gerade seinen Wehrdienst im österreichischen Bundesheer beendet. Er hatte sich auf einen Job beworben - und ihn bekommen. Das feierte er mit einem Freund und ging kurz raus, um eine Zigarette zu rauchen.
Der andere, Kujtim F., hatte diesen Abend wohl schon lange geplant. Er trug eine hellbraune Hose und ein weißes Oberteil. An seinem Bauch war ein Sprengstoffgürtel befestigt, eine Attrappe. Um seine Schulter hing eine Machete, mit der rechten Hand hielt er eine Schnellfeuerwaffe. Er ging die Straße entlang, blickte kurz zum rauchenden Nexhip und schoss auf ihn.
Kujtim F., wurde 20 Jahre alt, er starb durch Schüsse der Polizei. Er starb als Terrorist. Nexhip V., wurde 21 Jahre alt, er starb als Opfer dieses Anschlags.
Zwei Männer, eine Begegnung. Beide waren Anfang Zwanzig, beide hatten albanische Wurzeln. Die Dörfer, aus denen ihre Eltern stammen, liegen nur 140 Kilometer voneinander entfernt, in Nordmazedonien. Florian Klenk, Chef der Wiener Wochenzeitung Falter, ist der erste, der auf Twitter schreibt, der Attentäter habe albanische Wurzeln. Ein Schweizer Journalist, Enver Robelli, übersetzt den Tweet ins Albanische. Von da an verbreitet sich die Nachricht auf Facebook und in Familien-WhatsApp-Gruppen. Das Selbstverständnis der albanischen Community, schätzungsweise 80.000 Menschen mit albanischen Wurzeln leben in Österreich, ist erschüttert. Täter und Opfer sind Teil derselben .
In der Wiener Innenstadt, wenige Minuten vom Tatort an der Kaktusbar entfernt, liegt das Büro von Argtim Hani, 46, Besitzer einer Immobilienfirma - erster Stock, Holzparkett, poliertes Klingelbrett am Hauseingang. Als am Montag in den Gassen die Panik ausbricht und schwer bewaffnete Polizisten aufmarschieren, drängten sich Dutzende Passanten in sein Treppenhaus.
Zum Zeitpunkt des Anschlags sitzt Hani mit einem Freund in einer Bar. "Das ist keine Pistole, sondern Silvesterböller", beruhigt dieser Hani, ein Irrtum. Bis heute sind die Einschusslöcher der Kugeln in der Steinmauer der Gasse zu sehen. Jemand hat eine Rose in das Loch gesteckt.