Julia (Julie Ledru) hat leichtes Spiel beim Motorrad-Diebstahl: Als sie sich das neue Gefährt in einer guten Gegend bei einem älteren Herrn anschaut, hält dieser seine Hand am Polster, so als wolle er sie wie beim Stützradfahren halten. Er kann sich nicht vorstellen, dass die junge Frau weiß, wo die Schaltung ist geschweige denn weiß, wie man Gas gibt. Das verrät jeder seiner Blicke. Aber Julia besteht auf die Probefahrt, sonst wüsste sie ja nicht, ob alles gut funktioniert. Sie gibt dem Mann ihre Tasche mit angeblich ihren Personalien darin und beschwichtigt clever: "Nur ein kleines Stück". Es macht "vrrruuum, vrrruum" und schon ist Julia über alle Berge mit dem guten Stück und fühlt es wieder - das Adrenalin.
Der Debütfilm "Rodeo" von Lola Quivoron, der bei den Filmfestspielen in Cannes prämiert wurde, führt in eine Welt junger Grenzüberschreiter, die sich auf Motorrädern, Rollern oder Quads mit Stunts gegenseitig überbieten wollen. Die Story bezieht sich auf die sogenannten "Urban Rodeos", die in französischen Vororten eine große Tradition haben. Teil der jugendlichen Gruppierungen sind vornehmlich Jungs aus einkommensschwächeren Familien, die mit nicht zugelassenen Bikes auf den Straßen ihrer Nachbarschaft "Wheelies" (Fahren nur auf dem Hinterrad) vollführen. Die französische Polizei versucht diesen illegalen Treffen, die auch schon tödlich endeten, mittlerweile vermehrt den Riegel vorzuschieben.
Zwischen Dokumentation und Wirklichkeit
Um die Motorrad-Szene filmisch zum Leben zu erwecken, bringt die 34-jährige Regisseurin dafür größtenteils Laien mit Milieu-Erfahrung vor die Kamera. Quivoron fühlte sich nach eigener Aussage von den tosenden Motoren seit ihrer Kindheit angezogen. "Urban Rodeos" erlebte sie hautnah, als sie am Stadtrand von Paris groß wurde. Für die Film-Recherche schloss sie sich schließlich einer Crew an, um auf der Leinwand, wie sie es mal in einem Interview beschrieb, eine Mischung zwischen Dokumentation und Wirklichkeit zu erschaffen.
(Foto: PLAION PICTURES)
Glänzende Chrom-Reifen und teure Gadgets à la "Fast & Furious" haben in der Welt von "Rodeo" keinen Wert. Niemand könnte sie sich leisten und die illegalen Beziehungen reichen auch nicht aus. Obendrein wird nicht mit dem besten Gefährt angegeben, sondern allein mit den gelernten Tricks. Trotz deutlich geringeren Budgets als bei dem bekannten US-Klassenschlager versucht die junge Regisseurin dem Publikum starke Bilder, die an großes Action-Kino denken lassen, zu liefern. So nutzt sie bei der Farbgebung kühle Töne, um eine unangenehme Anspannung entstehen zu lassen. Als Julia nachts auf ihrem Fußweg zur Wohnung ihrer Mutter und ihres Bruders komplett im Dunkeln zu verschwinden droht, umgibt sie ein stechendes gelbes Licht, das an die Taxi-Hetzjagd durch Los Angeles in Michael Manns "Collateral" erinnert.
Eigentlich gucken Frauen meist nur vom Straßenrand aus den "Urban Rodeos" zu oder fahren hinten auf den Motorrädern mit. Einen aktiven Part als Fahrerin übernehmen sie nicht. Quivorons draufgängerische Hauptfigur will davon nichts wissen. Auf den ersten Blick passt sie perfekt zu den "B-Mores", einer Gruppe PS-starker Adrenalinjunkies. Denn auch Julias Welt ist rau: Schlägereien mit blutverschmiertem Gesicht sind nichts Neues, ebenso wenig wie Kleidung, die nach Benzin stinkt. Ihre aufbrausende Art und krummen Dinger haben sie von ihrer Familie entfernt. In der Wohnung ihrer Mutter ist sie nur auf dem Sprung und eher ein Fremdkörper. Am liebsten trägt sie schwere Ketten, große Sporttrikots und weite Hosen. Ihr Look und ihr Wunsch nach Anschluss unter Gleichgesinnten unterscheiden sich nicht von denen der männlichen Motorrad-Fanatiker, trotzdem stößt sie auf deutliche frauenfeindliche Aggression.
(Foto: PLAION PICTURES)
Als sie einem Mitglied nach einem Sturz das blutüberströmte Bein, an dem der Knochen bereits frei liegt, verbinden will, schmettert er ihr nur "Hure" entgegen und sie solle ihre Hände von ihm nehmen. Eine Ausnahme bilden Abra (Dave Nsaman) und Kais (Yanis Lafki), die dem "Bruder", wie sie erst genannt wird, beibringen, auf einem Rad zu fahren. Und mit einem netten Lächeln gelingt es ihr auch, Benzin zu schnorren. Ein tragischer Unfall verschafft ihr dann plötzlich einen Platz in der PS-starken Macho-Welt. Doch schnell entbrennt eine Fehde zwischen Julia und einem anderen Fahrer und sie gerät in eine Spirale aus Hoffnung für einen Familienersatz und tödliche Gefahr.
Quivoron, die gemeinsam mit Antionia Buresi auch das Drehbuch von "Rodeo" geschrieben hat, führt hier in eine kaum zugänglich wirkende Subkultur mit eher wortkargen Figuren. Viele Kamerafahrten fangen allein Motorengeräusche und die Stunt-Fahrten ein, ohne jegliche Kommunikation. Das hat natürlich den Effekt, Neugier beim Publikum hervorzurufen. Dabei spart sie aber sogar bei der Hauptfigur Julia die Hintergrundgeschichte ein, wodurch dieses Gefühl von Unnahbarkeit noch nachhaltiger wirkt.
Richtig schwierig wird es für den Zuschauer jedoch, wenn in "Fast & Furious"-Manier versucht wird, eine Schippe draufzulegen. Plötzlich sollen die Kleinganoven den ganz großen Coup mit viel Geld dahinter planen, hier verläuft sich der Film leider in nicht ganz zu Ende gedachten Storylines. Das nimmt "Rodeo" aber nicht die Fähigkeit, eine echte Verbindung zu denen vor dem Bildschirm aufzubauen. Das passiert immer dann, wenn die Motoren mal ruhig stehen.
Julia freundet sich mit Orphélie (Antonia Buresi) an, der Frau des im Gefängnis sitzenden Crew-Chefs, und währenddessen bricht sie nonchalant zuvor etablierte Stereotype. Die diebische Draufgängerin mit hartem Vokabular schlüpft auch mal in feminine Outfits. Warum auch nicht. Zeigt eine spirituelle Seite, wenn sie Palo Santo anzündet und ihre Beine und Arme mit dem Rauch umgibt. Sie ist fürsorglich und sogar zärtlich in dem Moment, als sie auf den kleinen Sohn des "B-Mores"-Chefs trifft. So richtig ohne Schutzschild trifft man die Hauptfigur aber nur, wenn sie in der Nähe eines Motorrads ist, das sie stets vermenschlicht. Behutsam streicht sie über die Sitzfläche, bestaunt den Tachostand und weiß: "Der Kolben ist das Herz."
"Rodeo" startet am 13. Juli 2023 in den deutschen KinosQuelle: ntv.de
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