Ben Hartmann und Johannes Aue sind derzeit mit ihrem aktuellen Album auf Tour. In ein Genre passen sie allerdings nicht.
Der Zigarettenrauch zieht schon am Vormittag durch die Kreuzberger Eckkneipe. An den holzvertäfelten Wänden hängen alte Porzellanteller und gemalte Bilder des Berlins von früher, Männer sitzen an einarmigen Banditen und hoffen auf ihr Glück. Johannes Aue bestellt ein Bier, Ben Hartmann einen schwarzen Tee. Im Hintergrund läuft Peter Maffay, Hartmann trällert ein paar Zeilen mit. Mit Ruhm hat dieser Ort wenig gemein. Und doch fühlen sich die Musiker der Band Milliarden wohl, hier, wo sich die Menschen ihrer grundehrlichen Maskerade hingeben. Die Männer an der Bar lauschen und rauchen.
Sänger Ben Hartmann ist 32, Pianist Johannes Aue 29 Jahre alt. Sie sind nur kurz zu Hause in ihrem Berlin. Mit ihrem aktuellen Album touren sie derzeit durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Sie stehen noch am Anfang ihrer Karriere und gehören doch schon zu den vielversprechendsten Musikern der Stadt.
„Berlin", der Titel ihres zweiten Albums, klingt wie eine Liebeserklärung. Dabei ist es eher ein uneingelöstes Versprechen - oder die schwindende Hoffnung auf das Ankommen. „Wir besingen, was wir erleben und was uns umgibt", sagt Hartmann. Und das ist laut und leise zugleich, melancholisch und euphorisch, rau und sanft, irgendwas zwischen Punk und Indie-Rock. Jedes feste Genre fühle sich ein bisschen falsch an, sagen sie. „Spiel, Ruin, Stadt als Beute / Stalins Erben, Technobräute", heißt es in einem ihrer Lieder.
Hartmann zieht sich die schwarze Kapuze ins Gesicht und nippt am Tee. Er sei in den Schluchten der Plattenbauten in Marzahn-Hellersdorf aufgewachsen. Entweder Punk sein oder Nazi, bei der politischen Verortung seien ihm nur Extreme geblieben. Also Punk. „Es stand nie zur Debatte, dass es etwas anderes sein könnte", sagt der 32-Jährige, der seine Fingernägel rot lackiert trägt. Heute sei es dort noch rauer als damals.
Im Zwischenlied „Roberto" ist ein Mann zu hören, der früher vor Hartmanns Haus hockte und nachts auf dessen Dachboden schlief. Bis das Haus saniert wurde. „Er wohnte über mir in diesem Elend und zwischen uns war nur diese Tür", erinnert sich der Sänger. Es wirkt, als würde er eine Mitschuld für Robertos Schicksal verspüren. „Doch jetzt kommen die Investoren / Das Chaos ist vorbei / Das war die beste Zeit." Eine andere Zeile aus dem Album. Vergangenheit und Gegenwart machen Hartmann gleichermaßen nachdenklich. Er erinnert sich lieber an morgen als an gestern.
Johannes Aue hatte da andere Probleme. Eine Zeit lang hat er gänzlich mit der Musik gebrochen, mit dem lästigen Musikunterricht, bei dem ihn seine Eltern angemeldet hatten: „Obwohl ich lieber hinter der Tankstelle Alkohol trinken wollte." Irgendwo in Bielefeld. Der 29-Jährige muss schmunzeln. Trotz innerer Widerstände spielte er weiter Klavier, fing sogar an zu komponieren. Letztlich gab ihm die Musik etwas, von dem er nicht wusste, dass er es braucht.
Jahre später bewarben sich beide an einer Bochumer Hochschule. Bei der Aufnahmeprüfung sah und hörte Sänger Hartmann den Pianisten Aue das erste Mal. „Ein glücklicher Zufall", meint Aue, aus dem in kürzester Zeit die Band Milliarden, ein Umsiedeln nach Berlin und ein Plattenvertrag bei Universal resultierten. Zwar studierten sie in Berlin an der Universität der Künste noch weiter Schauspiel, ohne aber wirklich zu studieren. Die gemeinsame Musik war jetzt alles, ihre Kunst, ihr Antrieb. Das wussten auch ihre Professoren. Ihr Diplom erhielten sie trotzdem.
Sie eint nicht nur die Suche nach ihrer musikalischen, sondern auch ihrer persönlichen Erfüllung. Nach sich selbst. Gar nicht so leicht in dieser Stadt. „Berlin verändert sich so stark, nicht nur von außen, sondern auch in den Menschen", sagt Hartmann. Dabei gehe auch in ihm etwas verloren, wonach er sich aber sehne. Sowieso spielt die Sehnsucht eine große Rolle in ihren Leben und ihrer Musik: nach dem Rauen und Ehrlichen, dem Dreck, in dem auch Schönheit liegt: „Ich springe splitternackt / In die Trümmer deiner Nacht."
Vielleicht werden sie nie ankommen. Aue glaubt das sogar. Milliarden Menschen mit Milliarden Möglichkeiten: Diese Zeit, in der Maxime immer weiter klettern, habe aber „auch ihre Qualität und ihren Sex, weil sie etwas Maßloses hat", sagt Hartmann. Der Name Milliarden sei für sie deshalb wie eine Überschrift für unsere Zeit.
Vor allem die Lieder, „die in den Keller klettern und ins Dunkle gucken", verlangten ihnen einiges ab, gibt Hartmann zu. Dabei versprüht ihre Musik genauso viel Optimismus. So, wie die Zeilen aus dem gleichnamigen Albumlied „Berlin". Sie enden mit „Du bist noch nicht verloren". Und: „Berlin, Berlin / Ich bleib' bei dir / Berlin, Berlin / Solang' ich kann." Ein bisschen Liebeserklärung ist dann eben doch dabei.
Heute bleiben sie noch vier Stunden, ehe es per Nightliner nach Frankfurt geht. Dann Stuttgart, Zürich, und Leipzig. Wie soll man da auch ankommen? Aue zuckt die Schultern. „Wer weiß, wo wir in zehn Jahren sind?", agt er. „Wer weiß, ob wir noch sind.". Am Donnerstag, 18. Oktober, geben Milliarden ihr einziges Tour-Konzert in Berlin, im Astra, so viel ist sicher. Weil das längst ausverkauft ist, wird die Band am 6. April nächsten Jahres ein Zusatzkonzert in „Huxley's Neue Welt" spielen.
Nach und nach dürften die Bühnen gern größer werden, sagt Aue. Und so bekommt ihre Suche plötzlich doch ein konkretes Ziel. Ein Mann vom Tresen dreht sich um. Er wünscht viel Erfolg.
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