Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 31/2022.
Sie sitzen an einem langen Holztisch, trinken Bier und Schnaps, erzählen Witze, lachen. Sie bestellen ein Getränk nach dem anderen. Dennis Kassel, 17, feiert mit seinen Freund:innen in der Dorfdisco. Er trinkt mehr Bier als sonst. Als seine Kumpels sich zur Tanzfläche bewegen, will Dennis erst aufs Klo. Das macht er oft, um im Spiegel zu checken, wie schlimm sie sind. Seine Schweißausbrüche. Dennis hat Hyperhidrose. Das ist der medizinische Begriff dafür, dass ein Mensch stark und viel schwitzt. Dennis zieht sich deswegen täglich vier- bis fünfmal um. Er hat sich angewöhnt, nur noch schwarze Shirts oder Sporttrikots zu tragen, darin sieht man die Flecken nicht so stark. Aber als er an diesem Abend in den Spiegel blickt, sind da keine dunklen Flecken unter seinen Armen, kein Schweißfilm, der seinen Kopf in eine Discokugel verwandelt.
Ab diesem Moment glaubt Dennis, ein Mittel gegen seine Hyperhidrose gefunden zu haben. Es gibt keine Studien, die zeigen, dass Hyperhidrose durch Alkoholkonsum gelindert wird. Im Gegenteil, in der Regel verstärkt dieser das Schwitzen. Doch an dem Abend in der Disco ist Dennis zufrieden und geht zu seinen Freund:innen auf die Tanzfläche. Er tanzt und hebt die Arme dabei ohne nachzudenken über den blond gefärbten Kopf. "Das war sozial und körperlich ziemlich befreiend", erzählt Dennis heute in einem Gespräch auf Zoom. Er ist ein gut gelaunter 40-jähriger Mann mit dick umrandeter Brille, gestylten Haaren und Dreitagebart.
Der Berater zieht einEin paar Tage nach dem Discobesuch öffnet Dennis die Tür seines Kleiderschranks, er will heute Abend mit den Jungs feiern gehen. Er greift nach dem üblichen schwarzen T-Shirt. Da sieht er ihn das erste Mal: den Berater. So nennt er ihn heute, so stellt Dennis sich den personifizierten Alkohol vor. Der Berater ist eine Art Teufelchen auf der Schulter. Diese Stimme, die einem schlechte Ratschläge gibt und zu Dummheiten verleitet. Der Berater sieht für Dennis aus wie ein Detektiv-Monk-Verschnitt. Zerknitterter Mantel, ungepflegter Bart und unter seinem Hut lugen fettige Haarsträhnen hervor. "Wir haben doch eine Lösung für dein Schweißproblem", sagt der Berater. "Wenn du heute Abend wieder genug trinkst, dann kannst du mal was anderes anziehen als ein schwarzes T-Shirt." Dennis zögert kurz, kramt dann sein Lieblingsoutfit raus: Cordhose und ein dunkelblaues T-Shirt mit weißen Streifen. Der Berater lächelt.
"Wenn jemand aus einem bestimmten Grund trinkt, sei es um lockerer zu werden oder um weniger zu schwitzen, sollte man den Alkoholkonsum kritisch hinterfragen", sagt Christina Rummel, Geschäftsführerin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. "Leute stellen sich oft vor, dass es einen Wendepunkt im Leben gibt, ab dem jemand alkoholabhängig ist. Aber das stimmt nicht." Der Prozess sei schleichend, eine Art Evolution, sagt Dennis heute. Eine Evolution mit fünf Phasen: Zuerst half ihm der Alkohol gegen die Schweißausbrüche, dann trank er immer mehr, dann fing er schon morgens damit an, vernachlässigte Partnerin und Freund:innen, und irgendwann gestaltete er sein Leben so, dass der Alkohol darin immer mehr Platz fand. Oder bildlich gesprochen: Der Berater machte es sich dauerhaft auf Dennis' Schulter gemütlich.
Wenn jemand aus einem bestimmten Grund trinkt, sollte man den Alkoholkonsum kritisch hinterfragen. Christina RummelMit 18 will Dennis vor allem das Leben genießen. Wäre da nur nicht dieser Schweiß. In der Schule umarmt ihn einmal ein Mädchen, das er gut findet. Sie ekelt sich vor seinem nassen T-Shirt und schreit das über den ganzen Schulhof. Von da an ist er sich seiner nassen Shirts permanent bewusst. Er plant seine Klamottenauswahl danach, ob er trinken wird. Aber er trinkt nicht nur, weil er glaubt, dadurch weniger zu schwitzen. Es ergeben sich während der Schulzeit einfach jeden Tag Gelegenheiten, die Dennis dankbar annimmt, um sich freier zu fühlen: montags, mittwochs und samstags nach den Bandproben, dienstags mit der Clique in der Bar mit der Happy Hour, donnerstags in dem Laden mit den günstigen Cocktails und freitags mit den Jungs im Club. Sonntags allein zu Hause, eingeschlossen in seinem Zimmer. Verborgen vor den Blicken seiner Eltern.
Wodka Energy zum FrühstückAm Samstag beginnen die Bandproben schon um 14 Uhr und auf einmal ist es in Ordnung, nachmittags besoffen zu sein. Das geht Jahre so. Dennis bekommt einen Bierbauch. Da entdeckt er an einer Tankstelle Dosen mit Wodka Energy. "Wenn du Wodka trinkst, dann musst du nicht mehr so viel Bier trinken, um auf deinen Pegel zu kommen", flüstert der Berater. Der Anfang vom Ende, wie er heute sagt. Danach fährt Dennis jeden Morgen und jeden Abend an eine Tanke und holt sich zwei Dosen. Immer an einer anderen Tankstelle. Kein:e Kassierer:in soll denken, dass er ein Problem hat. Denn Dennis hat kein Problem, das bestätigt ihm der Berater immer wieder. Er wird nicht ausfallend oder aggressiv, wenn er getrunken hat, er ist einfach nur gut drauf. Nach ein paar Monaten besorgt er sich Wodkaflaschen und Energy für zu Hause und mischt sich das Zeug selbst. Ist günstiger. Er verstaut Flaschen im Kofferraum, damit er immer was dabeihat.
Die ständige Verfügbarkeit von Alkohol ist berauschend. Jeden Tag, 24 Stunden. Wer will, kann zu jeder Uhrzeit eine Dose Wodka Energy oder eine Flasche Jägermeister kaufen. Um den Alkoholkonsum in Deutschland zu verringern, sollte dieser Verfügbarkeit ein Ende gesetzt werden, sagt Christina Rummel. "Weitere präventive Maßnahmen sind zum Beispiel die Preisgestaltung, die Anhebung der Alkoholsteuer und ein Verbot von Werbung, die suggeriert, dass man ohne Alkohol keinen Spaß haben kann." Andere Länder seien da schon weiter.
Im europäischen Vergleich ist Deutschland beim Alkoholkonsum gut dabei - mit jährlich etwa zehn Litern Reinalkohol pro Kopf sogar überdurchschnittlich. "Hinzu kommt, dass deutsche Jugendliche unter 18 Jahren Alkohol kaufen und konsumieren dürfen. In anderen europäischen Ländern ist das nicht so", sagt Rummel. "Bei uns wird nicht mal über Maßnahmen wie die seit Jahrzehnten gleich gebliebene Alkoholsteuer diskutiert."