Von einer Kommilitonin wurde Jens Heinrichs zum rituellen Drogenkonsum verleitet. Heute macht er eine legale Psychotherapie, bei der er die Substanz MDMA einnimmt. Zwischen beiden Erfahrungen liegen Welten.
Unter der Woche ist es eine normale psychiatrische Praxis, die sich irgendwo in einer Stadt in der Schweiz befindet. Nur samstags und sonntags, hinter verschlossenen Türen, findet hier eine besondere Form von Therapie statt. Sie nimmt die gesamten Räumlichkeiten und den halben Tag in Anspruch, weil eine einzelne Sitzung bis zu sechs Stunden dauern kann. Als Patient macht es sich der 29 Jahre alte Jens Heinrichs* auf einem Sofa bequem und schluckt eine Handvoll Kapseln herunter, die ihm sein Psychiater verabreicht und über die sie vorher ausführlich gesprochen haben. Er kommt zur Ruhe, legt sich vielleicht eine Decke über die Beine und trägt eine Augenbinde, um den Blick besser nach innen richten zu können.
Pflanzen, Holzmöbel und indirekte Beleuchtung werden in der Forschungsliteratur für die Einrichtung der Praxis empfohlen. Ganz so besinnlich bleibt es dann aber nicht. Nach einer halben Stunde auf dem Sofa fangen Heinrichs' Beine bereits zu wippen und zu zappeln an. Im Laufe der sechs Stunden hat er schon manchmal auf dem Boden herumgeturnt, sich vor Lachen weggeschmissen, laut gesungen, bitterlich geweint - und vor allem vieles über sich selbst erzählt, das er in nüchternem Zustand nur schwer in Worte fassen könnte. Seine Zunge sei dann wie gelockert, sein Blick auf die Welt sei plötzlich klarer, sagt er. So äußert sich für Jens Heinrichs die Wirkung des MDMA, von dem er zu Beginn einer Sitzung etwa 100 Milligramm in Kapselform einnimmt.
Dieser „Drogentrip" alle paar Wochen ist ein fester Bestandteil der Therapie, die er gegen seine Angststörung und Depressionen macht. Sie ist in dieser Form bisher nur in der Schweiz möglich und bedarf einer Sonderbewilligung, die sich zum Beispiel auf eine gescheiterte vorherige Therapie stützen kann. Das verabreichte MDMA schüttet im Gehirn vor allem den Botenstoff Serotonin aus. Es hebt die Stimmung, versöhnt mit den Mitmenschen und macht Wahrnehmungen intensiver. Aus dem Grund wird es illegal in Nachtclubs eingenommen und ist als Partydroge Ecstasy weltbekannt geworden. Für Jens Heinrichs hingegen bedeutet MDMA harte Arbeit. Nach Ablauf der sechs Stunden, wenn die Effekte nachgelassen haben, fängt erst der eigentliche Therapieprozess an, im Austausch mit seinem Psychiater. Dann muss Heinrichs das, was er unter Substanzeinfluss über sich gelernt hat, noch in seinem Alltag umsetzen, um von der Therapie profitieren zu können.
Die Antidepressiva kamen ihm wie ein Beiseiteschieben vor„Bei meinem ersten Trip hatte ich sehr viel Hoffnung in die Droge allein gesetzt. Aber sie ist eben kein Allheilmittel", sagt Heinrichs. „Am Ende überkam mich viel Trauer und auch Wut, weil mit dem Abklingen der Substanzwirkung klar wurde, dass sich in dem Trip doch nicht alle meine Probleme gelöst haben." Seine großen Hoffnungen kamen nicht von ungefähr. Sie wurden in den letzten Jahren durch beachtliche Forschungsergebnisse und reißerische Medienberichte befeuert. Die sogenannten Psycholytischen Therapien (die begleitet werden von Psychedelika wie LSD, Psilocybin und MDMA) sind gerade auf dem Vormarsch. Davor waren diese Therapien jahrzehntelang geächtet und wurden nur im Untergrund von selbsternannten Gurus durchgeführt.
Mittlerweile gibt es aus den USA und England gute Belege für ihre Wirksamkeit, an der Berliner Charité wird aktuell dazu geforscht. Auch in Jens Heinrichs’ Universitätsstadt hatte es in letzter Zeit Studien über den therapeutischen Nutzen von Psychedelika gegeben. So kam er auf die Idee zu der Behandlung. Einer der Leiter dieser Experimente, auf den er zuging, vermittelte ihn an seinen jetzigen Psychiater, der sich auf diese Therapieform spezialisiert hatte.
Heinrichs arbeitete zu der Zeit an einem Lehrstuhl für Ingenieurwissenschaften, an dem er eigentlich seinen Doktor machen wollte, nachdem er den Master als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte. Letztlich musste er seine Promotion jedoch abbrechen, weil es ihm zu schlecht ging. Bereits seit dem ersten Bachelor-Semester kämpfte er mit Depressionen und Ängsten. Neun Jahre lang war er neben seinem Studium in einer klassischen Therapie. Fünf Jahre lang nahm er Antidepressiva, deren Nebenwirkungen bei ihm anfangs ungewöhnlich stark waren. Die Antidepressiva kamen ihm eher wie ein Beiseiteschieben der eigentlichen Probleme vor, weil sie nur die Symptome linderten und gleichzeitig seine Gefühle betäubten. Bei circa einem Drittel aller Depressionspatientinnen und -patienten schlagen herkömmliche Medikamente gar nicht an; nicht zuletzt deshalb gilt die Suche nach neuartigen Therapien als ein drängendes Anliegen der Wissenschaft.
Das Herz vor dem Verstand
Nachdem seine klassische Therapie gescheitert war und er die Antidepressiva abgesetzt hatte, fand Heinrichs heraus, welch allgegenwärtiges Thema das Potenzial von Drogen in den Gesprächen seiner Uni-Kollegen war. Alle befanden sich auf ihre eigene Art auf einer spirituellen Sinnsuche, egal, ob sie psychisch gesund waren oder nicht. Ein Kommilitone von Heinrichs vertrieb sich seine Wochenenden gern mit MDMA oder LSD. „Das würde ich zum Beispiel niemals wollen, zum reinen Entertainment und ohne Support“, sagt Heinrichs. Dann kam er mit einer ehemaligen Unternehmensberaterin ins Gespräch, die am gleichen Lehrstuhl arbeitete wie er. Als sie von seinen erfolglosen Therapien hörte, empfahl sie ihm einen „Retreat“ mit dem rituellen Pflanzensud Ayahuasca, wie sie ihn schon mehrmals im Ausland gemacht hatte. Mit einer Psychotherapie hatte das gar nichts zu tun. „Ich war von Verzweiflung getrieben“, sagt Heinrichs, „ich wollte meine Krankheit irgendwie loswerden. Ich dachte, ich gehe das Risiko ein, denn schlimmer kann es nicht werden.“
Heute sagt er, dass das die falsche Herangehensweise war. Was ihm von der Kollegin als richtungsweisender „Retreat“ angepriesen worden war, stellte sich als Horrortrip heraus, der die Gefahren eines leichtfertigen, unprofessionellen Substanzgebrauchs eindrucksvoll unter Beweis stellte. Tagelang fand Heinrichs überhaupt keinen Schlaf, bevor er wie eine Bewusstlosigkeit über ihn kam. Er hatte Angst, in den Wahnsinn abzurutschen, und er hatte Suizidgedanken, die nicht zu ihm selbst zu gehören schienen. Der in Ayahuasca enthaltene Wirkstoff DMT kann während des Trips visuelle Halluzinationen auslösen, die man von MDMA normalerweise nicht bekommt. „Den Horrortrip werde ich nie vergessen“, sagt er.
So katastrophal diese Erfahrung im Ausland war, brachte sie trotzdem Themen an die Oberfläche, die er in einer richtigen Therapie weiter bearbeiten wollte, am liebsten mithilfe von Psychedelika. Er schien einen Zugang zu seinen tieferen Gefühlen gefunden zu haben, für den er in nüchternem Zustand wohl zu verkopft oder zu ängstlich war. „Das Ingenieurwesen ist extrem rational“, sagt Heinrichs, „es geht dort sehr männlich und rauh zu. Einzelne Fächer oder Profs wurden bei uns im Studium wie die Endgegner eines Videospiels gefürchtet.“ Seit er die Psycholytische Therapie mit MDMA macht, versöhne er seine emotionale Seite mit seiner Männlichkeit. Er könne jetzt auch mal im Alltag in Tränen ausbrechen, vor Dankbarkeit. Er wisse seit den Drogentrips, dass in Wahrheit das Herz vor der Ratio komme. Und er hat eine neue Wertschätzung für die Menschen in seinem Leben gefunden, die ihn und seine Krankheit akzeptieren, seien es seine Kumpels oder seine feste Freundin.
Die wichtigste Offenbarung
Was ist aber der Unterschied zwischen einem verkorksten und einem aus wissenschaftlicher Sicht gelungenen Drogentrip, zwischen der missbräuchlichen Anwendung und der medizinischen, wie es sie eines Tages auch in Deutschland geben könnte? Manuela Brand ist Psychotherapeutin und engagiert sich in einem Verein für die weitere Legalisierung der Psycholytischen Therapie in der Schweiz. Eine Missionarin ist sie nicht. In manchen Fällen könnten Psychedelika das Grundfalsche sein, sagt Brand, dann seien herkömmliche Therapien besser. „Manchmal gibt es Enttäuschung bei den Patienten, weil es erstmal zu einer Verschlechterung kommt. Wenn durch Psychedelika etwas Verdrängtes aus den Tiefen der Psyche hochkommt, wird der Prozess damit erst angestoßen. Das braucht Zeit. Das Ziel einer jeden Psychotherapie sollte es sein, am Konflikt zu wachsen“, sagt Brand.
Entscheidend für den therapeutisch begleiteten Trip seien die Aufklärung und der Beziehungsaufbau vorab. Heinrichs etwa traf seinen Psychiater zum ersten Mal im Juli und hatte dann mehr als zehn Sitzungen bei ihm, bevor es im Dezember mit dem MDMA losgehen konnte. „Außerdem muss die verwendete Substanz zum Störungsbild passen. MDMA ist vor allem bei Problemen im zwischenmenschlichen Bereich gut geeignet, um Selbstliebe und Vertrauen zu anderen wiederzugewinnen“, sagt Manuela Brand. Jens Heinrichs habe sich während der Trips als Kind vor sich gesehen. Er habe aufrichtiges Mitleid mit seinem kindlichen Selbst gespürt, während seine Eltern ihn bestraften oder vor seinen Augen stritten. Darüber hinaus kann es sich positiv auf den Therapieerfolg auswirken, wenn der Trip ein mystisches Gefühl von Spiritualität beim Patienten auslöst; wenn sich also das einzelne Ich auflöst und in etwas Verbindendem, Göttlichem aufgeht. Das ist eine Erfahrung, die Heinrichs so bisher nicht gemacht hat und die eher für LSD und Psilocybin typisch wäre.
Am Sonntagmorgen hat Heinrichs dann einen leichten Kater, nachdem er am Vortag bei seinem Psychiater war. Ansonsten spürt er keine Nebenwirkungen des MDMA. Eine große Hoffnung der Psychedelika-Forschung wäre, dass die Substanzen auf Dauer neuronale Verbindungen im Gehirn verändern. Indem der Patient in der Therapie und im Alltag kontinuierlich an sich arbeitet, könne er – unterstützt durch die Psychedelika – aus bisherigen Denkmustern ausbrechen, die eine neuronale Entsprechung haben. Die Erforschung dieser bleibenden Veränderungen im Gehirn läuft zwar noch, doch eine Lehre hat Jens Heinrichs daraus bereits für sich gezogen: dass er sich selbst nicht über seine Krankheit definieren muss, aber seine Krankheit über sich selbst verstehen lernen kann. Dass er sie nicht wie ein fremdes Ding beiseite schieben, sondern als Signal seines Körpers begreifen will, das mit seinem Gehirn und mit seinem Umgang mit sich selbst zu tun hat. Und dass es bei Psychotherapie nicht um die Suche nach einer Zauberformel geht, denn eine solche kann auch das MDMA letztlich nicht sein. Die Grenzen der Droge zu erkennen, das war wahrscheinlich die einzige göttliche Offenbarung, die er unter ihrem Einfluss hatte.
* Jens Heinrichs ist ein selbstgewähltes Pseudonym. Der Klarname ist der Redaktion bekannt.