- Folge 1: Das Asperger-Syndrom
- Folge 2: Die Borderline-Störung
- Folge 3: Akute Psychosen
- Folge 4: Angststörungen
- Folge 5: Depressionen
- Folge 6: Essstörungen
- Folge 7: Posttraumatische Störungen
Studieren mit dem Asperger-Syndrom
Veronika Pengler ist hochbegabt. Dass sie heute studieren kann, grenzt trotzdem an ein Wunder. Porträt einer Asperger-Autistin, die sich anderen Menschen eigentlich nur in der Natur öffnen kann.
Im Münchner Giftpflanzengarten wurden tödliche und harmlose Gewächse mit Absicht nebeneinander gesetzt. Veronika Pengler, 27 Jahre alt, steht über eines der Beete gebeugt und erklärt, wie man die Pflanzen voneinander unterscheidet, und auch, warum man sie so leicht verwechselt. Ihr selbst könnte ein solcher Fehler nie passieren. Pengler studiert Gartenbau, befasst sich schon seit ihrer Kindheit mit verschiedenen Giften und ist obendrein hochbegabt - ihr IQ wurde auf über 145 Punkte geschätzt. Trotzdem hatten Psychologen jahrelang gesagt, dass sie nie einen Schulabschluss machen werde. Wie passt das zusammen?
Pengler hat das Asperger-Syndrom, eine hochfunktionale Form des Autismus. Auf sieben männliche Asperger-Patienten kommt im Schnitt nur eine Patientin. Das liegt einerseits wohl an den Vorurteilen der Psychologen, die das Syndrom bei Frauen leicht mit der Borderline-Störung verwechseln, hat andererseits aber mit den Patientinnen selbst zu tun. „Autistinnen maskieren vieles, um nicht aufzufallen", erklärt Pengler im Giftpflanzengarten, wo wir uns zum Spaziergang getroffen haben. „Wir lernen aus Serien und Filmen über die Welt der normalen Menschen, wie aus einem Skript."
In dieser Welt der normalen Menschen findet sich Pengler erst dank einer Therapie zurecht. Die Therapie besucht sie in München, wo sie auch wohnt und studiert. Andere pauken ein paar Wochen lang für die Klausurenphase. Sie hingegen muss neben dem Studium permanent neue Fähigkeiten erwerben, um nur im Alltag bestehen zu können. Besonders empfindlich ist Pengler gegen Lärm und Gerüche. War während der Schulzeit mal wieder ihre Klasse zu laut, erlitt sie wegen der Reizüberflutung einen psychischen Zusammenbruch. Die Mädchen ihrer Klasse quälten sie, indem sie die Fenster schlossen und dichte Parfümschwaden versprühten.
Ich konnte nicht einmal mehr in Gesichter blickenHeute, im Gartenbau-Studium, bekomme sie es höchstens mit dem Körpergeruch der Kommilitonen zu tun. Wie der Duft von Bärlauch oder Stinkender Nieswurz kann ihr Schweißgeruch aber nichts anhaben, weil es ein organischer Geruch ist. Veronika Penglers Abneigung gegen alles Künstliche hat bei ihrer Studienwahl eine wichtige Rolle gespielt. In der Großstadt spüre sie eine extreme Beklemmung, die wie eine graue Wolke auf ihr laste. „Nur in der Natur wird meine Seifenblase groß genug, um andere Menschen hineinzulassen", sagt sie.
Eine Journalistin hätte sie an diesem Tag trotzdem nicht treffen wollen. Unter Frauen gebe es besonders viele ungeschriebene Regeln, die ihr zu schaffen machten. Ihre Therapeutin hat ihr erklärt, welche Funktionen solche Konventionen jeweils erfüllen, etwa, warum höfliche Komplimente nicht immer ganz aufrichtig sind. Das Beste an diesem Lernprozess ist aber: Pengler muss in der Therapie ihre eigene Wahrnehmung der Dinge nicht aufgeben. Zum Beispiel, warum für sie die Natur eine Kirche ist, wie sie Spazierwege nach der Summe ihrer Bäume auswählt oder warum sie Blaubeeren auf Kreuzungen legt, um sie den Göttern zu opfern - auf all diesen Gedankengängen kommt ihr die Therapeutin so weit entgegen, bis daran nichts Seltsames mehr, sondern nur etwas Radikales ist.
Hartnäckig hält sich der Mythos, dass eine Therapie bei Autismus nicht helfen könne. Das Störungsbild spielt nur eine Nebenrolle im Psychologiestudium und in der anschließenden Ausbildung, später trauen sich dann viele Therapeuten nicht mehr an den Autismus heran. Deshalb gibt es in Deutschland noch immer einen Mangel an Angeboten, besonders für erwachsene Autistinnen und Autisten. 2019 schloss am Max-Planck-Institut eine der wenigen Adressen in München. Jetzt gibt es mit dem Institut VFKV (Verein zur Förderung der klinischen Verhaltenstherapie) eine neue Anlaufstelle, wo sich junge Therapeuten in ihrer Ausbildung sogar auf das Asperger-Syndrom spezialisieren können. Dass die Therapeuten dort, wie sie, noch Anfänger sind, gefällt Veronika Pengler besonders gut.
Die meisten jungen Patienten, die in das Institut kommen, haben davor schon mehrere Fehldiagnosen erhalten und sind lange gegen eine Mauer angerannt. Damit der Asperger-Autismus erkannt wird, muss oft eine Begleiterkrankung hinzutreten; bei Pengler war es das Burnout-Syndrom. Ihre Versuche, sich Gleichaltrigen anzupassen, haben ihr so viel Stress bereitet, dass sie sich letztlich selbst sabotierten. Die Asperger-Symptome nahmen damals nicht ab, sondern zu: „Nach meinem Burnout konnte ich nicht einmal mehr in Gesichter blicken, Gesprächen folgen oder angefasst werden." Seitdem sei es ihr nicht mehr ganz so wichtig, dazuzugehören. Sie wohnt heute mit ihrem festen Freund zusammen, der sich ebenfalls auf dem Autismus-Spektrum befindet - und der ähnlich gern für sich bleibt.
Pengler versteht mittlerweile auch, was sie zu einer Außenseiterin macht. Sie nimmt Spinnen auf die Hand, aber erschaudert vor den Inhaltsstoffen von Kosmetikprodukten. Nicht jeder Mittzwanziger, der Kosmetika nutzt, möchte von ihr über die Produkte im Detail belehrt werden. Menschen ohne Autismus seien voller Widersprüche, sagt Pengler, sie seien rücksichtslos und achtlos. „Würde sich die normale Welt zur Abwechslung an uns anpassen, wäre das sogar förderlich. Es gäbe dann jedenfalls mehr Ehrlichkeit in der Welt."
Und falls es nie dazu kommt? Mithilfe ihres Studiums will Pengler eines Tages einen integrativen Gartenbaubetrieb gründen, um so auch anderen Autistinnen und Autisten einen Job im Grünen zu verschaffen.
Studieren mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Der Student Christopher König wollte Trennungen um jeden Preis vermeiden – bis ihm eine das Leben rettete. Porträt eines Borderline-Patienten, der jetzt den Wert und Wechselkurs seiner Gefühle kennt.
Daten sind das neue Gold, beziehungsweise das neue Erdöl, sagen manche. Nicht bloß Wirtschaftskonzerne, sondern auch Psychotherapeuten setzen ihre Hoffnungen ins digitale Datensammeln: Da jede Therapiestunde nur eine Momentaufnahme der psychischen Verfassung ist, aber manche Diagnosen eine längere Beobachtung erfordern, könnte etwa eine Analyse der Smartphone-Nutzung dabei helfen, sich ein besseres Bild von einem Patienten zu machen. Bis es so weit ist, muss die Datenerfassung noch auf die altmodische Art funktionieren. Christopher König, der in München VWL studiert und sich dort viel mit ökonomischen Daten befasst, schreibt Tagebucheinträge, um sich selbst zu tracken. Das ist nicht sehr hightech, trotzdem ist das Büchlein für ihn von unschätzbarem Wert.
Im Tagebuch notiert König die täglichen Schwankungen seiner Gefühle, als wären es Aktienkurse. Circa zwei Tage muss er jede Woche für die Nachsorge seiner Psychotherapie aufwenden, das bremst auch sein Studium. „Das Schlimme ist, du weißt von Kindheit an, dass etwas nicht stimmt, aber du hast einfach keinen Namen dafür“, sagt er. Seit er sich erinnern kann, erlebt er im Wechsel immer wieder Euphorie und Angst, Energie und Erschöpfung, emotionale Überforderung und Taubheit. Dass es darin ein Muster gibt, blieb ihm lange Zeit verborgen. Heute, mit 25 Jahren, weiß er, dass die Gefühls-Hölle immer dann losbrach, wenn ihm der Verlust einer Bezugsperson drohte oder zumindest zu drohen schien, sei es der Abschied von einer Lehrerin, einer Campus-Freundschaft oder einer romantischen Beziehung.
König leidet unter der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Typisch für diese Erkrankung ist die Instabilität des emotionalen Erlebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Gerade diese Schwankungen zu erkennen, macht die Diagnose so schwierig, zumal in den bewegten Jahren des Studiums, während der späten Adoleszenz. Als Mann gehört Christopher König zu einer Minderheit unter den Betroffenen. Seine überaus sensible Art, die sich als Borderline-Symptom herausstellte, passt weder zur vorherrschenden Idee von Männlichkeit, noch in das Klischee eines Wirtschaftswissenschaftlers. Im nüchternen VWL-Studium habe er sich deshalb möglichst gefühlskalt und distanziert gegeben. Ähnlich verstellte er gegenüber jungen Frauen seine Persönlichkeit, um sich ihnen anzupassen. Es gebe nichts, das er nicht mögen würde, um gemocht zu werden: Zum Beispiel fing er für eine Lyrik-Liebhaberin an, Gedichte zu schreiben, und begann für eine Fitness-Anhängerin mit dem Fasten.
Sinnvoll mit den eigenen Emotionen umgehen
Wegen solcher Täuschungsmanöver werden Borderline-Patienten manchmal als manipulativ bezeichnet. Dabei handeln sie nicht aus einem rationalen Kalkül heraus, sondern eher aus großer Verzweiflung. Egal, was er versuchte, nie habe König die Angst vor einer Trennung vertreiben können, nie habe er sich bei jemandem in Sicherheit geglaubt. Schließlich riet ihm eine junge Frau dazu, in Behandlung zu gehen. „Das hat mir das Leben gerettet“, sagt er. Auf der psychiatrischen Station der Universität München habe er seinen Gefühlen erstmals freien Lauf lassen können, nachdem er sich genau das jahrelang abtrainiert hatte.
Im Frühling erhielt König dann einen der wenigen Therapieplätze für sein Störungsbild. Gemeinsam mit einer Gruppe aus elf Patientinnen durfte er drei Monate lang lernen, seine Emotionen besser wahrzunehmen und sinnvoll mit ihnen umzugehen. Dazu gehörte beispielsweise eine Kunsttherapie, in deren Verlauf er seine Innenwelt als dunkelblaues Farb-Gemetzel gemalt hat, eine Art Schiffbruch in tosender Brandung. Das schöne Bild steht mittlerweile gerahmt bei ihm in der Wohnung. Links und rechts ist es umgeben von bunten Graffiti. Nach dem Abschluss seiner Therapie haben er und zwei andere Patientinnen, mit denen er sich angefreundet hatte, bei ihm zu Hause die Innenwände vollgesprüht. Das sei so befreiend gewesen, als dürfte man mit einem Hammer einmal alles kurz und klein schlagen. Die Grenzen der Graffiti sind fließend, die Linien ungestüm; die drei sind ziemlich stolz auf ihr Werk.
Für Christopher König stellen diese neu gewonnenen Freundschaften allerdings auch ein Rückfallrisiko dar, genauso wie die gute Beziehung zwischen ihm und seiner Therapeutin. Viele Borderline-Patienten haben ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Therapiefortschritt, da er letztlich zwangsläufig einen Abschied bedeutet, schreibt die amerikanische Psychologin Marsha Linehan. Linehan hat in den achtziger Jahren jene Therapieform entwickelt, die jetzt König geholfen hat, die „Dialektisch-Behaviorale Therapie“. Sie hat seitdem unzählige Patienten behandelt – und erfolgreich wieder verabschiedet.
Neben dem Verlust seiner Therapeutin fürchtet König den Verlust seiner akademischen Leistungsfähigkeit. Früher kämpfte er gegen die emotionalen Schwankungen an, indem er sich in die Arbeit stürzte. Vor allem die Angst sei ein großer Antrieb zum nächtelangen Lernen gewesen. Bei genauerem Hinsehen habe die Borderline-Störung seinem Studium jedoch mehr geschadet als genützt, sagt er heute: ihr seien nicht bloß seine zwei Fachwechsel, sondern auch seine längeren Ausfälle geschuldet. Für seinen weiteren Weg hat er sich deshalb ein Motto überlegt, das seiner psychischen Gesundheit dient. Es ist kein Motto, mit dem sich Businessratgeber für steile Karrieren verkaufen ließen, aber eines, das auf lange Sicht angelegt ist: „Die Leute, die wirklich Erfolg haben“, sagt König, „sind konsistent.“
Studieren mit akuten Psychosen
Ein Halbgott, kurz vor dem Explodieren: Seine Promotion hat Jonah Hoffman in eine Psychose geführt. Hier erzählt er, inwiefern sich höhere Mathematik und psychotisches Denken ähnlich sind.
Als auf der Straße ein Auto bremste, unterbrach sich Jonah Hoffman* mitten im Satz. Meinte das ihn? War die Bremsung eine Antwort auf das, was er gerade gesagt hatte? Er konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen. Ein paar Tage später unterhielt Hoffman sich mit einem Kommilitonen aus dem Mathematik-Studium über eine Klausur. Je länger sie sprachen, desto deutlicher erkannte er eine verdeckte Botschaft darin. Hier ging es nicht mehr um eine unfaire Mathe-Klausur. Hoffman selbst befand sich überall und rund um die Uhr in einer einzigen großen Prüfungssituation. Eine geheime Parallelgesellschaft testete ihn, dachte er – so, wie er alles auf sich bezog, als seine Gedanken plötzlich keinen Filter mehr hatten.
Seine feste Freundin wusste, dass er überarbeitet war. Nach einem stressigen letzten Master-Semester hatte Hoffman mit seiner Promotion in Mathematik an der Uni München begonnen. Er spürte den Druck, eine wissenschaftliche Karriere aufbauen zu müssen, und geriet gleich zu Beginn bei seiner Forschung in eine Sackgasse. Dass der Stress ihn wirr dahinreden ließ, war allerdings neu und seiner Freundin nicht mehr geheuer. Sie drückte ihm die Nummer des Psychiatrischen Krisendienstes in die Hand, bevor sie aus der gemeinsamen Wohnung flüchtete. Später in derselben Nacht stand Hoffman bei seinen Eltern auf der Matte, im „Zwischenreich von Leben und Tod“, wie er damals dachte. Die materielle Welt glaubte er verlassen zu haben. Sogar seine Sinne gaukelten ihm etwas vor: Er saß auf dem Teppich seiner Eltern, erkannte darin einen bunten Galaxiennebel und spielte mit den einzelnen Sternen. „Ich war ein Halbgott, aber ich stand auch kurz vorm Explodieren. So stelle ich mir einen miesen Drogentrip vor“, sagt er heute.
Behandlung in Milieutherapie
Diese Nacht im Galaxiennebel war der Höhepunkt einer akuten Psychose, die Jonah Hoffman vor zweieinhalb Jahren erlitten hat. Neben einer genetischen Veranlagung zählen große Veränderungen und Neuanfänge zu den möglichen Auslösern dieser Störung. Bis heute lässt Hoffman regelmäßig in einer Langzeittherapie überprüfen, ob er noch mit beiden Beinen in der Realität steht. Seine Antipsychotika durfte er vor Kurzem absetzen, das war nicht frei von Risiko. Sollte die Psychose eines Tages zurückkehren, könnte seine Diagnose sogar auf eine Schizophrenie lauten.
Dabei hatte alles eigentlich mit einem guten Gefühl angefangen. In der höheren Mathematik ist es wichtig, Muster zu erkennen, assoziativ zu denken und den Geist für Eingebungen zu öffnen. Entsprechend begeistert war Hoffman, als ihm auf einmal so viele ungewöhnliche Ideen kamen. Er machte sich mehr Notizen als früher und brachte für große Fragen eine ganz neue Energie auf. Vermutlich schüttete sein Gehirn zu diesem Zeitpunkt schon mehr von dem motivierenden Botenstoff Dopamin aus, als ihm gut getan hätte.
Nicht bloß zwischen den Zahlen, auch zwischen den Zeilen drängten sich im Alltag plötzlich versteckte Bedeutungen auf. Menschen um ihn herum schienen in Metaphern zu sprechen, wenn sie eigentlich über das Wetter redeten. Das habe ihn zwar nicht feindselig gestimmt, trotzdem sei es ihm schwer gefallen, fremde Hilfe zu akzeptieren: Selbst an der psychiatrischen Klinik, in die er eingewiesen wurde, kam ihm noch jedes Detail verdächtig vor. Die Namen des Personals klangen wie Codewörter für Menschen aus seiner Vergangenheit. Drei Monate lang konnte er sich in stationärer Behandlung davon überzeugen, dass sie in Wahrheit doch keine Doppelagenten waren.
Nach langer Krankschreibung zurück an die Uni
Bei der sogenannten Milieutherapie wohnen die Patienten und Betreuer in einer Lebensgemeinschaft zusammen, als wären sie eine große Familie. Sie kochen und putzen gemeinsam, dürfen frei von Stress leben, viel miteinander reden und sich auf andere Gedanken bringen. „In der Klinik musste ich erst wieder lernen, Zufälle sehen zu können“, sagt Hoffman, „ich nehme die Wirklichkeit nicht mehr für selbstverständlich, seit ich weiß, dass sie innerhalb von nur einer Woche zusammenbrechen kann.“ Als die Symptome endlich nachließen, holte er in der Psychiatrie seine Mathe-Übungsblätter von früher hervor und löste die leichteren Aufgaben. Er übte eine Realität ein, die ihm zuvor abhanden gekommen war.
Diese alte Realität und sein Studienfach langweilten Hoffman nach seinem Klinikaufenthalt. Immerhin war für ihn die Welt schon einmal voller Magie und fundamentaler Erkenntnis gewesen. Auch ansonsten musste er die kleinen Belohnungen des Alltags erst wieder zu schätzen lernen und sich an normale Dopamin-Level in seinem Gehirn gewöhnen. Dabei halfen ihm Antidepressiva. Ab und an habe er die Psychose vermisst, gibt Hoffman zu, er spricht bis heute mit einiger Faszination über diese Phase seines Lebens: „Manches davon kann ich immer noch nachvollziehen. Ich stelle mir gerne vor, dass es irgendwo eine Zwischenwelt gibt, die meiner Phantasiewelt ähnelt.“
Er hat sich wieder eingegliedert, ist nach langer Krankschreibung an die Uni zurückgekehrt und hat ein neues Promotionsprojekt begonnen. Stunde um Stunde konnte er sein Arbeitspensum erhöhen, Pille für Pille durfte er die Medikamente nun ausschleichen. Seither übt er mit seiner Therapeutin, wie man den Kontakt zur Wirklichkeit hält. Dazu gehört vor allem ein kritisches Denken, das rigoros genug ist, um noch die tollsten spontanen Eingebungen zu hinterfragen. Es ist eine Fähigkeit, die Hoffman in der Mathematik nur nützen wird – und eine Voraussetzung dafür, als Freigeist durchs Leben zu gehen.
* Name geändert. Der Klarname ist der Redaktion bekannt.
Studieren mit einer Angststörung
In den Dachboden oder in den Beichtstuhl eingesperrt: Moderne Dichterinnen brachten der Studentin Léa Krasniqi auch viel über ihre eigene psychische Krankheit bei – und über die Macht der Aussprache.
„Ich stehe unter Beschuss und doch stehe ich“, schrieb die amerikanische Dichterin Adrienne Rich. „Ich stand mein ganzes Leben lang in der / Schusslinie einer Reihe von Signalen / der getreuest übermittelten / unübersetzbarsten Sprache.“ Unübersetzbar seien die Signale, und trotzdem hat sie in ihrem Gedicht „Planetarium“ einen Versuch gewagt, ihnen Ausdruck zu verleihen. In den 1960er Jahren wurde Rich zu den Confessional Poets der Vereinigten Staaten gezählt, also zu einer losen Gruppe von Dichtern um Sylvia Plath und Anne Sexton, die in unverblümtem Stil über privateste Themen wie etwa ihre psychische Gesundheit schrieben. Für das lyrische Ich, das zwischen Autor und Publikum steht, hatten sie plötzlich keine Verwendung mehr. Manche haderten mit dem Etikett, ein „Beichtstuhl-Dichter“ zu sein. Was sollte das, in Abgrenzung zu anderer Lyrik, eigentlich heißen?
„Beichten hat für mich einen negativen Beigeschmack“, sagt die Studentin Léa Krasniqi*, „wenn doch gar keine Sünde dabei ist.“ Sie selbst hat die Erfahrung gemacht, dass es nichts bestärkenderes gebe, als sich vor anderen ehrlich zu machen. Das weiß die 23-Jährige jetzt, nachdem sie jahrelang für sich behalten hatte, wie miserabel es ihr ging. Von außen war ihre psychische Erkrankung nicht zu erkennen, und Krasniqi wusste keinen Namen dafür. Sie hatte eine Generalisierte Angststörung entwickelt, und dazu gehörte eben auch, sich selbst ständig von der Berechtigung ihrer eigenen Ängste zu überzeugen. Auf ihrem Smartphone dokumentierten Fotos, dass ihr Herd tatsächlich ausgeschaltet war und das Haus also nicht abbrennen würde. „Aber zehn Minuten später fand mein Gehirn etwas Neues, über das es sich Sorgen machen konnte.“
Ihre Familie und Kommilitonen ahnten nichts. Aus der Sicht Außenstehender seien akademische Leistungen oft der Maßstab für die Einschätzung des Wohlbefindens, sagt Krasniqi, das erleichtere in ihrem Fall das Verdrängen. Sie hatte als Jahrgangsbeste die Schule abgeschlossen und ein Stipendium bekommen. Nun allerdings drohte ihr Literatur- und Psychologie-Studium unter die Räder zu kommen. Immer zeitraubender wurden ihre Vorsichtsmaßnahmen gegen die Katastrophen-Szenarien, die sie sich ausmalte; für das eigentliche Studium blieb kaum Energie. Von den Szenarien trat letztlich keines ein, dafür gab es im Winter 2019 aber zum ersten Mal eine mündliche Prüfung in Englischer Literaturwissenschaft, die Krasniqi nicht bestand. Sie hatte über Shakespeares Stück „Der Sturm“ nur Fakten auswendig gelernt, sich nicht wirklich damit auseinandergesetzt, wie sie sagt. So hatte sie es oft gemacht, weil ihr die nötige Muße fehlte.
Das unbegründete Gefühl, etwas Tabuisiertes verheimlichen zu müssen
Als im folgenden Frühjahr die Corona-Pandemie begann, fand sie für sich selbst eine unerwartete Verschnaufpause inmitten der globalen Katastrophe. Ihr Bachelor-Studium, das sie eigentlich so schnell wie möglich durchziehen wollte, dauerte letztlich fünf Jahre statt der geplanten drei. Sie begann eine Kognitive Verhaltenstherapie, ihre Therapeutin verschrieb ihr Antidepressiva. In den Sitzungen erlaubte sie es sich zum ersten Mal, den Blick nach innen und in die Vergangenheit zu richten, ganz so, wie es die eingangs erwähnten Dichterinnen – in Perfektion – zu tun verstanden. Krasniqi ist mit zwei jüngeren Brüdern aufgewachsen, die beide durch eine Zerebralparese mehrfach behindert sind. Bereits in diesem Fall hatte sie das unbegründete Gefühl, etwas Tabuisiertes vor anderen verheimlichen zu müssen. Bei ihr selbst musste zum Ausgleich stets alles reibungslos laufen. „Da ist es verständlich, dass ich als Antwort darauf psychische Probleme entwickelt habe“, sagt sie mit fester Stimme – von der Atmosphäre eines Beichtstuhls ist in unserem Gespräch nichts zu spüren. „Das zu verstehen, war in meinem Heilungsprozess extrem wichtig.“
Nur dank ihrer Diagnose, also dank dem Benennen und Aussprechen, habe sie sich von fremden Erwartungen lossagen können. Zum ersten Mal in ihrem Leben gehe es nun auch darum, was sie selbst möchte. Seitdem es ihr besser geht, konnte sie sich viel mehr auf ihr Studium einlassen. Sie forscht, schreibt selbst Gedichte und leitet das Psychologie-Magazin auf ihrem Campus. Natürlich musste sie zu der mündlichen Prüfung, in der sie durchgefallen war, ein zweites Mal antreten. Diesmal sprach sie über die Figur der Antoinette Cosway, die in Charlotte Brontës Roman „Jane Eyre“ in den Dachboden eingesperrt wird; außerdem über ein Sonett von Lady Mary Wroth, mit dem diese schon 1621 zu ihren psychischen Leiden stand. Für Krasniqi waren diese offenherzigen Literatinnen ein echter Beistand. Vor ein paar Tagen hat sie endlich ihr Bachelor-Zeugnis in der Post gefunden.
Es sei nicht nötig, sich mit einem konkreten Erfahrungsbericht zu identifizieren, um die Macht des Erzählens darin zu spüren, sagt sie. Wann immer sie sich einem Kommilitonen oder einer Kommilitonin anvertraute und zum Thema „psychische Gesundheit“ äußerte, habe das die Dynamik des Gesprächs entscheidend verändert, weil es unmittelbar der ewigen Selbstvermarktung über Stipendien und Noten ein Ende bereitete. „Ich wollte unbedingt darüber reden und verstanden werden“, sagt sie, und man kann an ihrer Stimme hören, wie groß diese Anstrengung war. „Jetzt, da ich öfters die Gelegenheit zur Aussprache hatte, nimmt das Bedürfnis spürbar immer weiter ab. Jetzt ist es umgekehrt, das heißt, ich ermuntere mich selbst dazu, trotzdem noch regelmäßig darüber zu sprechen.“
* Léa Krasniqi ist ein Pseudonym, das sich die Studentin überlegt hat. Ihr Klarname ist der Redaktion bekannt.
Als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund kostet es viel Überwindung, an der Uni ein Attest einzureichen – zumal wegen einer psychischen Erkrankung. Ein Treffen mit dem Politik-Student Iago Romero.
Hinter der Flagge der Vereinten Nationen versteckt stehen die Bierkästen. An einer Garderobenstange hängen Badehosen und -tücher. Direkt vor dem Fenster fließt der Eisbach durch den Englischen Garten in München – fast wie bei den echten Vereinten Nationen am East River in New York. Hier unten, im Keller des Politikinstituts in der bayerischen Landeshauptstadt, wird Weltpolitik verhandelt, denn hier trifft sich regelmäßig die studentische Delegation, die München bei den simulierten „Model United Nations“ vertritt. Als leidenschaftliche, eingeschworene Gruppe, die in ihren politischen Reden auch Luftschlösser bauen darf, sind sie so etwas wie die Theaterkids der Sozialwissenschaften.
Besonders emotional waren die gemeinsamen Monate für den Dreiundzwanzigjährigen Iago Romero*. In diesem Zimmer hat er Freundinnen und Freunde gefunden, die von seiner psychischen Erkrankung wissen und ihn so akzeptieren, wie er ist. Die Interessen von Vietnam, Saudi-Arabien und Indonesien hat Romero bei der Modell-UNO schon vertreten. Nun nimmt er auf einem Sessel im Institutskeller Platz und setzt erstmals zu einer Rede über seine eigene Situation an.
Seit einer Woche nimmt er Antidepressiva und feilt noch an der richtigen Dosierung. Er fürchtet die Nebenwirkungen, spürt bereits leichte Übelkeit und ein Hitzegefühl, doch nach drei Jahren Verhaltenstherapie habe kein Weg mehr an den Tabletten vorbei geführt. „Ich kann die Depression nicht mit Self-Care besiegen, wenn ich es nicht mal schaffe, mir die Zähne zu putzen“, sagt er ein wenig sarkastisch. Manchen Leuten ist es kaum verständlich zu machen, dass der strahlende Sonnenschein, der gerade durch das Fenster mit Parkblick fällt, Romeros Leiden nicht lindern kann.
Die große Erschöpfung
Er sucht nach einem anschaulichen Vergleich. „Wie ein Köter“ habe ihn das verfolgt, was im dritten Semester seines Politikstudiums mit einem psychischen Zusammenbruch begann. Der „schwarze Hund“ ist eine durch Winston Churchill berühmt gewordene und seitdem viel rezipierte Metapher, die besonders aussagekräftig für das Lebensgefühl mit einer depressiven Störung zu sein scheint. „Wie unter einer bleiernen Decke“ sei Romero jeden Morgen aufgewacht, um dann „in Watte gepackt“ den Tag zu verbringen, erzählt er. Von jetzt auf gleich ereilte ihn eine große Erschöpfung, die es unmöglich machte, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Seine tägliche Herausforderung bestand plötzlich darin, Vitalfunktionen am Laufen zu halten; also wenigstens einmal am Tag zu essen.
Entsprechend schwer sei es gewesen, dieses Siechtum mit seinem Ego zu vereinbaren. Was würde er alles verlieren, was könnte er sich von seiner Zukunft noch versprechen, wenn das so weiterginge? Das Untätigsein führte in eine Art Teufelskreis. Viel Selbstvertrauen habe er noch nie besessen. Romero kommt aus einer Arbeiterfamilie und ist wegen seiner kolumbianischen Wurzeln eine Person of Color. Wenn diese Biografie nicht bereits seine Leistungen relativierte, wie er insgeheim dachte, und ihn an der Uni zu einem Hochstapler machte – „fehl am Platz zwischen all den Überfliegern“ –, dann doch spätestens die Extra-Zeit, die er wegen der Depression für seine Hausarbeiten benötigte. Schickte er ein psychiatrisches Attest an einen seiner Dozenten, bekam er das Gefühl, einen unfairen Vorteil einzuheimsen, und erklärte sich jedes Mal mit einer ausführlichen E-Mail.
In dem Mail-Verkehr sieht Romero aber auch eine politische Mission. Den Lehrkörper über psychische Störungen aufzuklären, sei eine echte Pionierarbeit. Beim nächsten Mal, wenn jemand anderes in der gleichen Situation ist wie er, wäre dann schon ein grundlegendes Bewusstsein geschaffen. Und nachfolgende Generationen von Studierenden würden es ihm danken: „Es ist zynisch, ausgerechnet von Depressiven zu erwarten, dass sie sich mit dem System anlegen.“ In einer Leistungsgesellschaft sei eine Depression keine Privatangelegenheit mehr, sagt Romero, sie mache einen vom Wohlwollen anderer Menschen abhängig. Trotzdem fühle sich das Coming-Out weiterhin wie ein Ausstellen des Privatlebens an. Das gesellschaftliche Klima entscheide in Zukunft, wie groß diese Hürde für die Betroffenen ist.
An der Wand hängt ein Stadtplan von New York City, dem Sehnsuchtsort der Jungdiplomaten, den sie wegen der Corona-Pandemie noch nicht erleben durften. Bei der ersatzweise online ausgerichteten Konferenz wurde das Team aus München immerhin schon als „herausragende Delegation“ ausgezeichnet. Solche Preise oder Komplimente anzunehmen, fällt Romero nach wie vor schwer. „Je höher der Flug, desto tiefer wird der Sturz“, hatte er sich lange Zeit als Vorsichtsregel eingeschärft, um depressive Episoden abzufangen. Ein paar wenige seiner Model-UN-Kollegen wussten mit seinen Gemütsschwankungen nicht so recht umzugehen, sie hielten eine der beiden Seiten für nicht echt.
In beide Richtungen schlägt seine Stimmung jetzt weniger aus, seit er die Antidepressiva einnimmt. Auch die Höhenflüge werden von ihnen gedämpft. Zum Beispiel vermisst er seine intensive Wahrnehmung und Rührung. Er weint nicht mehr wie früher Rotz und Wasser, wenn er sich Richard Wagners „Tristan und Isolde“ oder andere Opern auf seinem Smartphone anhört; die Musik habe einen anderen Klang bekommen.
„Wie ein Angriff unter die Haut“ seien solche Eindrücke früher gewesen, und Romero überlässt es dem Zuhörer, zu entscheiden, ob dieser Vergleich etwas Gutes oder Schlechtes ausdrückt. In jedem Fall will er mit den Nebenwirkungen der Antidepressiva nicht für immer leben. Er hofft, sie eines Tages absetzen zu können, einen Kompromiss zwischen den Extremen zu finden und sich mit seiner sensiblen Seite zu versöhnen.
* Iago Romero ist ein Pseudonym, das sich der Student überlegt hat. Sein Klarname ist der Redaktion bekannt.