Gibt es terroristische Einzeltäter? Die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung sammelt Einwände gegen das Konzept
Die von Schüssen durchlöcherte Tür der Synagoge ist zu einem schaurigen Symbol für den Massenmord geworden, der dahinter geplant war und den ihr Schloss verhinderte. Dass die Tür ein Jahr nach dem Anschlag von Halle auch als Coverbild für eine Zeitschrift mit soziologischen Aufsätzen ausgewählt wurde, hat aber noch einen anderen Grund. Das Scheitern von Stephan B. an der Synagogentür stellt in prozesssoziologischer Betrachtung einen Wendepunkt dar, in dem sich am deutlichsten zeigte, dass auch diese Tat einen sozialen Charakter hatte. Da dem Täter ein Online-Publikum live über sein Smartphone zusah, entschuldigte sich B. mehrmals für das, was er als sein Versagen empfand. Dann suchte er nach Opfern in der Umgebung, um sein Gesicht zu wahren. Ohne diese Gemeinschaft hätte er den Anschlag wohl abgebrochen, legt Chris Schattka im „Mittelweg 36" dar, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung (29. Jg., Heft 4-5, 2020). Unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung kann man dann im Sinne von Schattka sagen: Stephan B. handelte nicht allein.
Thomas Hoebel und Stefan Malthaner gehen im gleichen Heft noch einen Schritt weiter. Für sie gibt es so etwas wie terroristische Einzeltäter überhaupt nicht. Mehrmals bemühen sie den Gedanken, dass jede Randständigkeit und jedes Alleinsein zutiefst sozial sei, auch die alleinige Planung und Durchführung eines Terrorakts. Das liegt indes auf der Hand, denn anderenfalls wären solche Taten kein Gegenstand der Sozialforschung, und die Zeitschrift wäre gar nicht entstanden. Gleichwohl: Wann war die Soziologie wohl zum letzten Mal in der Situation, dass breite Teile der Öffentlichkeit nach ihr rufen, weil ihnen die „Psychologisierung" einer Debatte Unbehagen bereitet? Selbst wenn zuletzt die Radikalisierung von Tätern zur Sprache kam, wurde deren Ergebnis oft als kognitiver Zustand behandelt, in dem jemand angelangt ist - also wieder als eine psychische Disposition des Einzelnen. Was kann die Soziologie nun zu den Deutungskämpfen beitragen, die zum Beispiel über den Münchner Anschlag von 2016 geführt wurden?
Psychische Auffälligkeiten hatten laut einer Studie nur 31 Prozent der Einzeltäter. Bei mehr als doppelt so vielen Einzeltätern gab es Mitwisser ihrer Tatpläne. Allerdings kritisieren Hoebel und Malthaner diesen quantitativen Ansatz, weil er einer Stichprobe von Einzeltätern vorab eine Definition des Phänomens zugrunde legen muss. „Einzeltäterschaft" sei nie selbstevident, sondern ein wertender Begriff, voraussetzungsvoll, manchmal sogar von polemischer Qualität. Damit kritisieren die Autoren implizit die deutsche Politik und explizit jene Wissenschaftler, die glaubten, mit dem „einsamen Wolf" eine eigene Spezies von Terroristen entdeckt zu haben.
Das Forschungsparadigma des Wolfes übernahmen nicht bloß Politiker wie Barack Obama in ihren Sprachgebrauch. Umgekehrt hatten die Forscher den Deutungsrahmen ihrerseits schon übernommen, und zwar aus dem Umfeld der Täter, dem amerikanischen Rechtsextremismus. Dessen Wortführer schwelgen in Jagdmetaphorik und riefen in den Neunzigern zum „führerlosen Widerstand" auf. Damals interviewte die Soziologin Kathleen Blee weibliche Aussteiger der Neonazi-Szene. Heute erinnert sie sich daran, wie diese von ihren „rassistischen Erleuchtungen" fälschlicherweise als Selbsttransformationen erzählten. Erst lebensgeschichtliche Untersuchungen ergaben, dass der Kontakt zu einschlägigen Gruppen vor der „Erleuchtung" kam, dass die Betroffenen also Ursache und Wirkung vertauschten, um sich in einer möglichst aktiven Rolle darzustellen.
Seitdem haben sowohl der „führerlose Dschihad" (Marc Sageman) als auch der führerlose Rechtsextremismus mit Anschlagserien unter Beweis gestellt, wie hoch ihr Organisationsgrad ist. Letzterer fand im März 2019 trotz globaler Zerstreuung wieder eine Führerfigur: in dem Terroristen, der in Neuseeland 51 Moscheebesucher erschoss. Dieser Anschlag von Christchurch inspirierte internationale Nachahmer, die wiederum Beispiele für andere geben wollten. Halle war ein Glied in dieser Kette. Die zeitliche Sequenz aus Rückbezug und Antizipation könnte nun ein Anknüpfungspunkt für eine Soziologie der Relationen werden.
Religionssoziologische Begriffe müssten nicht erst auf das Phänomen projiziert werden: Die Nachahmer gelten online sogar als „Jünger" ihres „Heiligen" aus Christchurch. Trotz solcher Nachahmung christlicher Redeweisen mit apokalyptischen Implikationen möchten die meisten Soziologen in den Online-Foren keine Religion sehen. Ihre Suche nach besseren Analogien steht allerdings noch am Anfang. So beschreibt Schattka die Foren als Peer Groups, deren kulturelles Kapital die „Memes" seien, weil sie über Ausgrenzung und Statusvergabe entschieden. Mattias Wahlström formuliert eine Warnung: Die Foren könnten annähernd so viele Fähigkeiten und Energien wie herkömmliche Terrororganisationen vermitteln, außerdem Gelegenheiten für Planspiele schaffen und wie herkömmliche Medien Legitimität verleihen.
Dass gut eingeführte Sozialtheorien nur mit Vorsicht auf das Internet angewendet werden, muss kein Nachteil sein. Gerade nach dem kurzen Zeitalter des Wolfs braucht es wahrscheinlich keine Revolutionen in der Terrorismus-Forschung. Warum dann nicht ex negativo vorgehen, wie beim Begriff des Einzeltäters seit jeher üblich („keine Mittäter"), und erst einmal ausschließen, was die Online-Foren alles nicht sind? Sie sind zum Beispiel nicht hierarchisch genug, um mit Niklas Luhmann von einer Verantwortungsentlastung sprechen zu können, bei der entfernte Vorgesetzte die Risikoübernahme des Einzelnen erleichtern. Solch ein verwaltungsmäßiges Morden begünstigte eher der „Islamische Staat".
Ein Terrorakt sei für die mediale Öffentlichkeit eine „negative Singularität", hat der Zeitsoziologe Andreas Reckwitz behauptet. Hoebel erwidert ihm, ein Online-Forum erwarte und valorisiere Einzeltaten auch als positive Singularitäten. Er übersieht, dass Reckwitz den Ideologien der Foren, sei es Rechtsnationalismus oder islamischer Fundamentalismus, ein der Valorisierung, also der Wertsicherung durch Stützungsmaßnahmen, entgegengesetztes Muster zuschrieb: einen Kommunitarismus, der Individualitäten unterdrücke und den Markt bekämpfe. In den Foren sind alle anonym.
Gerade diese Ideologien einzelner Einzeltäter bleiben bei den Analysen bisher außen vor. Begründet wird das auch damit, wie unbeholfen Stephan B. im Live-Stream nur Versatzstücke einer antisemitischen Erzählung zu wiederholen wusste. Ihn stellte seine große Inszenierung vor Publikum schließlich als den unfähigsten und unpolitischsten unter den Massenmördern der jüngsten Zeitgeschichte bloß.