Wertschöpfung durch Kinder gibt es auch heute. Doch in den historischen Kinderrepubliken war die Rhetorik dafür besonders ausgefeilt: Die Modelle verschleierten ihren wahren Zweck.
Die Sehnsucht nach Autonomie dürfte bei Kindern in diesem Pandemie-Sommer besonders groß sein. Modellstädte geben ihnen die Chance, in die Rollen der Erwachsenen zu schlüpfen, als Politiker, Polizistin oder Schreiner, eben als Macher und Entscheider. Ursprünglich wurden diese Rollenspiele zur Disziplinierung straffälliger Kinder entwickelt. Heute wird man hier sogar zu Missetaten angestiftet. „Auch ein Banküberfall kann in diesem Handlungskontext sinnvoll sein", sagt die Pädagogin Margit Maschek.
Maschek betreut die Modellstadt Mini-München, etwa achtzig solcher Miniaturwelten gibt es in Deutschland. Wegen Covid-19 wurden die Angebote des Ferienprogramms im August erstmals über die Stadt verstreut. Mini-Rathaus und Mini-Museum quartierten sich in ihren Vorbildern ein, was das Ganze noch authentischer machte. Das erste Mini-München im Jahr 1979 war gegen die Exklusion von Kindern gerichtet: Diese wurden bis dahin nicht bloß behütet, sondern auch bevormundet. Mit der Kritik daran schloss sich ein pädagogischer Kreislauf, denn in den Vereinigten Staaten waren es just die Modellstädte gewesen, welche die Exklusion der Kinder aus der Gesellschaft erst vollzogen. Sie sollten sie von echter, in der Familienwirtschaft üblicher Arbeit befreien und mit gespielter Arbeit trösten. Sprich: Dasselbe Konzept, das heute zur Partizipation befähigt, schränkte sie damals ein.
Disziplinierende Macht der DemokratieDie Kategorien Spiel und Arbeit sind nicht über konkrete Tätigkeiten definiert, sondern lassen sich willkürlich festlegen. Zu diesem Ergebnis gelangt die amerikanische Historikerin Jennifer Light in einem unlängst erschienenen Buch ( „States of Childhood". From the Junior Republic to the American Republic, 1895-1945. MIT Press, Cambridge, Mass. 2020. 480 S., Abb., br., 40,- US-Dollar). Die erste Kinderrepublik, in der beides vermischt wurde, entstand 1895 bei Freeville, New York. Ihr Gründer William George, „Daddy" genannt, hatte schon in New York City mit Straßenkindern gearbeitet. Zum Unabhängigkeitstag holte er 144 Kinder aus prekären Verhältnissen aufs Land. Was als Sommer-Camp begann, wurde zu einer Kinderrepublik, die mehr als 100 Jahre Bestand hatte und Tausende Kleinrepubliken im ganzen Land inspirierte.
Gebäude, Gesetze, aber auch die soziale Ungleichheit wurden den Vereinigten Staaten nachempfunden. Die „Ausreise" kostete die Kinder Spielgeld, doch war sie bald nicht mehr nötig, denn statt der Schule konnte das „Verlagshaus" besucht werden, für das die Kinder als „Autoren" Aufsätze schrieben. Zuerst war George der Präsident, er gab aber auch dieses Amt an die Kinder ab. Der Gründervater hatte die disziplinierende Macht der Demokratie für sich entdeckt.
Eine Kampagne gegen Kinderarbeit? Aber nur rhetorischAls Anreiz genügten die geprägten Aluminiummünzen, denn ihre Kaufkraft war real. Anstatt gezüchtigt zu werden, gingen die Kinder nun mit Übeltätern ins Gericht, und das wortwörtlich. Light deutet die Kinderrepubliken als Parallelinstitutionen zu den Gefängnissen und führt den Erfolg der Verhaltensmodifikation auf die Beschäftigungstherapie zurück - und nicht auf die Härte der Strafarbeiten, zu denen die Kinder sich verdonnerten. Für die Bauprojekte etwa war das Steinebrechen nötig, das wenig beliebt gewesen sein dürfte.
In Wissenschaft und Presse war die Begeisterung groß. Einerseits versprach man sich die gesellschaftliche Integration eingewanderter oder verwahrloster Kinder. Gleichzeitig griffen die Republiken auch eine besondere Vorliebe der Zeit auf: Kopien und Simulationen erlaubten das Eintauchen in fremde Lebenswelten. Eine zum Verwechseln ähnliche, aber eben simulierte Erwachsenenwelt sollte nicht bloß vor Kinderarbeit schützen, sondern wurde sogar als eine Kampagne gegen diese verstanden. Möglich wurde das dank der Rhetorik des „Modells" und der „Dramatisierung". Sieht man von solchen Termini ab, erkennt man, dass die Kinderrepubliken im Grunde dieselben Arbeiten als pädagogisch wertvoll ausstellten, die in der realen Welt schon als unangemessen für Kinder galten; so die Arbeit mit industriellen Maschinen.
Heute wird der Hocker einfach mitgenommen
Dass Kinderarbeit nun wie die Hausarbeit außerhalb des Marktes stand, hatte System. Nicht nur die Selbstversorger-Republiken hätten ohne sie nicht funktionieren können. Auch Schulen und Kinderheime, die Georges Konzepte der Selbstregierung und Mini-Ökonomie adaptierten, waren von der Arbeitskraft ihrer Schützlinge abhängig, beispielsweise in der Küche. Jennifer Light verfolgt mit ihrem Buch ein ehrgeiziges Ziel: Sie will die Geschichte des amerikanischen Wohlfahrtsstaates korrigieren. Jene Institutionen, denen heute der Jugendschutz verdankt wird, wurden von Kindern mit aufgebaut. Auch kommunale Obrigkeiten mit Personalmangel ließen sich ihre Straßen von unbezahlten Minderjährigen „im Spiel“ reinigen oder bewachen. Im Ersten Weltkrieg bekam die Kinderrepublik in Freeville sogar eine neue Werkstatt für die Produktion von Militärartikeln, zehn Millionen Dollar sollen dank amerikanischer Kinder gespart worden sein. Erst im Zweiten Weltkrieg überwog das Unbehagen, bei Bürgern unter fünfzehn Jahren galt eine demokratische Gesinnung dann als ausreichender Beitrag zur nationalen Kraftanstrengung.
In Mini-München werden zwar auch Hocker hergestellt, aber alle Waren und Dienstleistungsprodukte gehören letztlich den Kindern selbst. Ihnen Grundsätze freier Marktwirtschaft zu vermitteln sei dabei nachrangig, erläutert Margit Maschek. „Niemand erklärt etwas, alles wird von den Kindern per Gesetz weiterentwickelt.“ Das war bei William George noch anders. Als überzeugter Patriot wollte er die Kinder keine beliebige Erwachsenenwelt kopieren lassen, sondern jene Ordnung, die er für natürlich und überlegen hielt, inklusive starrer Geschlechterrollen. Es war ein so konservatives wie reformerisches Projekt, das später, als jugendliche Proteste gegen industrielle Arbeitsbedingungen und Rassentrennung aufkamen, von Bundesregierung und FBI als Instrument zur Einflussnahme erkannt wurde.
Psychologen eroberten sich die Macht zurück
Dabei mussten die Kinderrepubliken gar nicht erst politisiert werden – die zugrundeliegende Theorie war schon politisch. Laut der Rekapitulationstheorie des Psychologen G. Stanley Hall durchlaufen heranwachsende Kinder dieselben Stadien wie die menschliche Spezies. Das Sprichwort, dass das Kind der Vater des Mannes sei, hatte nach Hall durch die Evolutionslehre eine tiefere Bedeutung erhalten. In Kindern lebten demnach Eigenschaften aus der Vorzeit des Menschen fort. Keinesfalls ging es also darum, wie Margit Maschek es über Mini-München sagt, „Kinder für kompetent zu halten“. Im Gegenteil: Kulturferne Kinder (als besonders primitiv galten die Jungen) sollten zu fleißigen Staatsbürgern gemacht werden. Völker und auch einzelne Menschen lernen durch Imitation dazu, man nahm an, dass allen Kindern diese Fähigkeit als „dramatischer Instinkt“ eingegeben sei.
Zwar wurden die Kinderrepubliken nach Europa exportiert, unter anderem von den Amerikanern ins besiegte Deutschland. Doch hier berief man sich lieber auf europäische Denker wie Johann Heinrich Pestalozzi und Friedrich Fröbel. Georges Nachruhm verblasste auch in seiner Heimat. Einige der Institutionen wurden später zu Jugendzentren umfunktioniert, in denen sich Psychologen die Macht zurückeroberten, andere gingen bankrott. Die einzelnen Komponenten werden heute nicht mehr als Teil seines Erbes wahrgenommen.
Wer in einer Schülerregierung wie den „Model United Nations“ sitzt, wird von William George wohl nichts erfahren. Doch nach der Lektüre des Buches von Light entdeckt man sein Vermächtnis überall. Der Dokumentarfilm „Boys State“ oder das Forschungsprinzip der „Allyship“, das an der Universität Portsmouth erprobt wird, sind aktuelle Beispiele für die anhaltende Beliebtheit von Rollenspielen für Kinder. Auch in einer behüteten Kindheit kann die Trennung von Spiel, Bildung und Arbeit verschleiern, wo Wert geschöpft wird: etwa in unbezahlten Pflichtpraktika oder im digitalen Raum, wo kindliche Konsumenten auch Produzenten sind.