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Belfast: Hinter der Mauer wohnen die anderen

Der Konflikt mag Geschichte sein, die Mauer aber ist noch da. Sie verläuft zwischen zwei Straßen, die einst besonders berüchtigt waren: die protestantische Shankill und die katholische Falls Road. Sie laufen parallel zueinander. Die Mauer, die sie trennt, gehört zu den ältesten Belfasts.

Steht man direkt vor ihr, könnte man sie für die Berliner East Side Gallery halten: meterhohe Betonelemente, bemalt und voller Graffiti. Sobald man aber den Blick nach oben richtet, wird klar, dass das hier kein Kunstprojekt ist. Auf den Beton folgt Wellblech, gekrönt von stabilem Maschendraht. Insgesamt zwölf Meter Stein und Metall trennen im Westen Belfasts protestantische von katholischen Stadtteilen - 17 Jahre, nachdem der gewaltsame Konflikt in Nordirland offiziell für beendet erklärt wurde.

Es gibt viele von diesen Mauern in Belfast. "Peace Walls" oder "Peace Lines" werden sie in Nordirland genannt. Der Begriff sei natürlich ein bisschen ironisch, sagt Norman Reilly. "Aber die Mauern bewahren nun mal den Frieden. Wenn du Leute auf beiden Seiten fragst, dann sind die froh, dass die Mauer da ist." Kann man wirklich froh sein darüber, eine Aussicht auf zwölf Meter Beton und Maschendraht zu haben? "So fühlen sich alle sicherer. Und die Teilung gibt es sowieso. Die Mauer ist nur ein sichtbares Zeichen dafür."

Die Mauern sind eine Touristenattraktion

Norman Reilly, 45, war früher Taxifahrer. Heute bietet er Touren zu den Mauern und Murals des Nordirlandkonflikts an, den Wandmalereien, mit denen die Sympathie für die eine oder die andere Seite ausgedrückt wird. Nach dem Waffenstillstandsabkommen von 1998 kamen immer mehr Touristen nach Belfast, und immer mehr fragten bei Reilly an, ob er sie dorthin bringen könne. Also wurde Reilly nach und nach zum Touristenführer.

Heute beschäftigt er sieben Fahrer in Vollzeit - und er ist längst nicht der einzige Anbieter. Die Taxitouren sind beliebt. Im Bewertungsportaljargon: Sie gehören zu Belfasts Top-Attraktionen. Kein Wunder, versprechen sie doch einen persönlicheren Zugang zur Geschichte der Stadt als der gewöhnliche Sightseeing-Doppeldecker. Ein wenig mag auch hineinspielen, dass bürgerkriegsähnliche Zustände für die meisten europäischen Touristen, die Belfast bereisen, weit weg sind. Bei einer Taxi-Tour kann man sich im heute sicheren Belfast einen kleinen kontrollierten Schauer über den Rücken jagen lassen.

Das Wetter ist irisch, als Reilly uns vor unserer Unterkunft abholt. Die Bilder auf seiner Website versprechen eines der traditionellen Londoner Black Cabs. Stattdessen fährt Reilly mit einem modernen Peugeot vor. Weniger retro, dafür praktisch: Wir passen problemlos zu fünft in den Passagierraum, wo wir Reillys in melodischem irischem Akzent vorgetragenen Einführung im Trockenen lauschen können. Rein katholische und rein protestantische Stadtviertel sind immer noch Realität für die meisten Belfaster, wie er sagt. Nur 20 Prozent leben in gemischten Vierteln. Nicht überall trennt eine Mauer die Konfessionen, für Touristen sind die Grenzen oft nicht auszumachen. "Gerade stehen wir auf einer katholischen Straße", sagt Reilly. Dann zeigt er auf den Kreisverkehr vor uns. "Aber wenn wir da rüber fahren, sind wir in Shankill."

Man sieht die Unterschiede. In Shankill flattert ein Union Jack an einem der Reihenhäuser, ein Stromhäuschen ist ganz in blau, rot und weiß bemalt - die protestantische Seite setzt sich für einen Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich ein. Norman Reilly ist hier aufgewachsen; als er geboren wurde, fing der Konflikt, den Reilly wie alle Iren nur die Troubles nennt, gerade an, blutig zu werden. "Ich bin mit Leuten zur Schule gegangen, die später von der IRA ermordet wurden. Als kleiner Junge war ich mal mit meinen Eltern in der Stadt, als eine Bombe hochging - das reinste Pandämonium", sagt Reilly. "Solche Geschichten kann dir jeder erzählen, der hier aufgewachsen ist. Jeder ist irgendwie betroffen." Ganz nebenbei erzählt er dann selbst noch eine: wie er einmal den Pub verließ, um Geld abzuheben. Und wie die IRA genau in diesen wenigen Minuten den Pub stürmte und drei Menschen erschoss.

Wir halten vor einem der bekanntesten Murals in Shankill. Es zeigt einen Mann, der auf einem weißen Pferd einen Fluss überschreitet. Der Mann ist Wilhelm von Oranien, der am Fluss Boyne in Nordirland seinen katholischen Widersacher schlug. Das war 1690. Dreieinhalb Jahrhunderte später, taugt Wilhelm offensichtlich immer noch als Identifikationsfigur für die Unionisten. Am anderen Ende der Straße prangt das Porträt eines Mannes namens Steven "Topgun" McKeag an einer Hauswand, bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2000 Anführer der paramilitärischen und ab 1992 als Terrororganisation verbotenen Ulster Defense Association. McKeag ist nach Schätzungen der Polizei für mindestens zwölf Morde verantwortlich. In Shankill liegen unter seinem Porträt mehrere frische Blumenkränze.

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