"Na, dann holen wir noch ein paar Stühle", sagt Wolfgang Volkmer, Sprecher des Kreisverbands der Grünen in Jena. An einem Abend Mitte Juni sitzt er im Kreisverbandsbüro in einem grünen gepolsterten Sessel um einen massiven Holztisch. In der Mitte: eine Schüssel Erdbeeren, grüne Kugelschreiber und das Parteiprogramm. Um ihn herum: Menschen, die gerade Grüne geworden sind oder zumindest mit dem Gedanken spielen, in die Partei einzutreten.
Volkmer verschwindet im Nebenzimmer, um noch weitere Exemplare des Parteiprogramms zu holen und noch mehr Stühle. Mit so vielen Teilnehmern hatte er nicht gerechnet. Zwei Leute hatten sich angemeldet, mit maximal acht hatte er gerechnet, nun sind zehn da.
Die Grünen befinden sich in einem Zustimmungshoch, zuletzt waren sie in manchen Umfragen bundesweit die stärkste Kraft. Bei der Europawahl landete die Partei zum Beispiel in München noch vor der CSU, fast jeder Dritte in der Stadt wählte grün. In Berlin bekamen die Grünen in mehreren Bezirken über 30 Prozent der Stimmen.
Auch in Jena hatte die Partei ein hervorragendes Ergebnis - 20,4 Prozent. In keinem anderen Kreis in Thüringen waren die Grünen bei der Europawahl stärkste Kraft. So wurde Jena zu einer grünen Oase in einem Bundesland, in dem sonst CDU oder AfD vorne lagen.
Unterschreiben, zahlen, zu den Grünen gehören - und dann? Zuallererst duze man sich, erklärt Volkmer. Einige lächeln und nicken. Und im besten Fall, fährt er fort, sei man nicht nur Mitglied auf dem Papier, sondern werde aktiv. Das könne aktionistisch sein, müsse es aber nicht. Denn grundsätzlich gehe es darum, sich inhaltlich zu beteiligen. Egal wobei.
Im vergangenen Jahr stieg die Mitgliederzahl der Grünen bundesweit um gut 15 Prozent, in den östlichen Bundesländern sogar um 19 Prozent. Dabei hatte die Partei in den vergangenen Jahren Schwierigkeiten, die Bevölkerung im Osten für sich und ihre Themen zu begeistern. Nun funktioniert es vor allem in den Städten wie Jena. Dort waren es zuletzt 14 neue Mitglieder auf einmal. Eine der Neuen ist Christina Richter.
Petition als politisches Schlüsselerlebnis
Die 31-Jährige ist Referendarin für Deutsch und Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Mit den Grünen, sagt Richter, habe sie schon länger sympathisiert. Sie habe im Wahlkampf geholfen, Plakate auf- und wieder abzuhängen, Flyer zu verteilen und grüne Thesen auf den sozialen Netzwerken zu teilen.
Richter war allerdings auch schon ohne die Grünen ein politisch engagierter Mensch. Sie ging auf Demos, engagiert sich als Gewerkschaftsmitglied für bessere Arbeitsbedingungen, achtet im Unterricht darauf, gendergerechte Sprache zu benutzen. Und sie fand es unfair, wie die Thüringer Behörden mit Lehrern umgingen, die kein Zweites Staatsexamen haben - so wie Richter selbst.
Konkret ärgerte sie sich über befristete Verträge für DaZ-Sprachförderkräfte in Schulen. Und verfasste 2017 ihre erste Petition. Alle DaZ-Lehrer, die als Quereinsteiger von den Universitäten geholt worden waren, sollten entfristete Stellen bekommen. Richter hatte Erfolg. DaZ-Lehrer in Thüringen mit Hochschulabschluss wurden unbefristet eingestellt, wenn sie sich nachqualifizieren. Ein Zweites Staatsexamen ersetzt das nicht, weswegen sich Richter für ein Referendariat entschieden hat.
Die Petition war für Richter ein politisches Schlüsselerlebnis: Sie merkte, dass sie etwas bewirken kann, auch wenn sie das kaum zu hoffen gewagt hatte. Das habe sie zum Nachdenken gebracht, ob es nicht sinnvoll sein könnte, auf konventionellem Weg Politik zu machen - damit derartige Petitionen in Zukunft idealerweise gar nicht mehr notwendig seien.
Gegengewicht zur AfD
Auch deshalb sitzt Richter nun im Grünen-Kreisverbandsbüro. "Wie genau funktioniert das mit den Landesarbeitsgemeinschaften?", fragt sie, als sie auf dem grünen Sessel vor der Schale mit Erdbeeren sitzt. Grünen-Sprecher Volkmer dreht sich zum Flipchart und beginnt zu schreiben. In den Gruppen werde über Themen diskutiert, die für politische Entscheidungen auf Länderebene relevant seien. Bildung zum Beispiel. Richter nickt, es ist genau ihr Thema.
Das Argument, sich für den Umweltschutz einsetzen zu wollen, erwähnt interessanterweise niemand explizit an diesem Abend. Vielleicht auch, weil es als Selbstverständlichkeit gilt. Richter sagt, es gehe um Themen wie Integration, Bildung - und ein Gegengewicht zur AfD.
Kurz vor der Europawahl habe ihr ein entfernter Bekannter geschrieben, dass er regelmäßig ihre Posts auf Instagram gelesen habe und deshalb zu den Grünen gegangen sei. Zu diesem Zeitpunkt habe sie selbst noch mit der Mitgliedschaft gehadert, sagt Richter und lacht. Die Nachricht ihres Bekannten habe ihr den nötigen Tritt gegeben. Der Bekannte, erzählt sie, wohne in Sachsen. Dort könnte die AfD bei der Landtagswahl am 1. September laut Umfragen stärkste Kraft werden. Und auch in Thüringen wird dieses Jahr noch gewählt, am 27. Oktober.
Parteimitgliedschaft und Verbeamtung: Das sei doch ein bisschen spießig, scherzt Richter. Aber bei den Grünen könne man eben mehr erreichen als ohne die Unterstützung einer etablierten Partei.
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