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Die Ware Frau: Frauenhandel in Deutschland

Es ist die finanzielle Not, die Nadia* aus ihrem Heimatdorf in Weißrussland fliehen lässt. Ihre Eltern sind alkoholabhängig, die Auseinandersetzungen mit ihnen zermürben die junge Frau. Eine Freundin bietet ihr an, dass sie in einem Restaurant in Polen arbeiten könnte. Dort angekommen erzählen sie Nadia, der Job sei schon vergeben. In Deutschland hätten sie aber einen Job für sie. Zwei Männer nehmen sie hier in Empfang - und ihr gleich auch den Pass ab. Sie zwingen die junge Frau, als Prostituierte zu arbeiten. Die Polizei brauche sie gar nicht erst anzurufen, die würde sie gleich abschieben, sagen sie ihr. Nadia hat Glück - vorerst: Durch die Hilfe eines Freiers gelingt ihr die Flucht. Doch ihr ehemaliger Zuhälter findet sie wieder und ein schreckliches Martyrium beginnt. Mit Vergewaltigungen wird die Frau bestraft und anschließend gezwungen, wieder anschaffen zu gehen.

Nadias Schicksal ist nur eines von vielen, von denen die Beratungsstellen, die mit dem bundesweiten Koordinierungskreis für Frauenhandel (KOK) zusammenarbeiten, berichten können. 612 Fälle von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung listet das Bundeskriminalamt für 2012 auf. 96 Prozent von ihnen sind Frauen, rund die Hälfte ist jünger als 21 Jahre. Zwei Drittel der Opfer stammen aus Osteuropa, vor allem aus Bulgarien und Rumänien, aber auch deutsche Frauen können Opfer von Frauenhandel werden. Die Dunkelziffer der Fälle ist noch viel höher. Deshalb ist es auch schwierig, die weltweite Dimension des Menschenhandels - der neben der sexuellen auch die Ausbeutung der Arbeitskraft zum Ziel haben kann - zu erfassen. Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Kriminalitätsbekämpfung (UNODC) geht für 2012 von rund 2,4 Millionen Opfern aus.

Die erste international rechtsverbindliche Definition von Menschenhandel lieferten die Vereinten Nationen im Dezember 2000. Demnach handelt es sich um diese Straftat, wenn folgende Punkte erfüllt sind: "Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder den Empfang von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt (...), durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit (...) zum Zweck der Ausbeutung." Ausbeutung umfasst Zwangsarbeit, Sklaverei und Leibeigenschaft, aber eben auch sexuelle Formen wie Prostitution. 79 Prozent der Opfer von Menschenhandel sind Frauen.

Jede von ihnen hat, wie Nadia, ihre eigene Leidensgeschichte durchgemacht. "Frauenhandel ist ein vielschichtiges Phänomen", sagt Katharina Meiser von der Hamburger Beratungsstelle KOOFRA. Und wie Nadia sind sich die Frauen nicht immer im Klaren darüber, dass sie für ihre neuen Arbeitgeber anschaffen gehen sollen, sagt Jörn Blicke vom Landeskriminalamt (LKA) in Hamburg. Den BKA-Zahlen von 2012 zufolge wusste ein Drittel der Opfer nicht, dass sie als Prostituierte arbeiten sollten. Schlimm wird es für die Frauen, wenn sie in Deutschland ankommen und die Arbeitsbedingungen plötzlich ganz andere sind, als ihnen vorher versprochen wurde. Wenn sie mit Gewalt gezwungen werden, Dinge zu machen, die sie nicht wollen und ihnen der Lohn dafür hinterher abgenommen wird. Nicht selten werden sie auch zum Abarbeiten angeblicher Schulden gezwungen.

Und so werden die Frauen zur Ware. Ein lohnendes Geschäft für die Ausbeuter. Die internationale Arbeitsorganisation ILO der Vereinten Nationen geht davon aus, dass sich die weltweiten Einnahmen aus dem Menschenhandel auf rund 32 Milliarden Dollar belaufen. "Menschenhandel ist für die Täter lukrativ", heißt es auch im Lagebericht des Bundeskriminalamts. Die Opfer verdienten, wenn sie als Prostituierte sexuell ausgebeutet werden, teilweise mehrere Tausend Euro im Monat. Davon blieben ihnen aber nur geringe Beträge für sich selbst oder die Familien in den Heimatländern übrig - alles andere nehmen die Zuhälter den Frauen ab. Ermittlungsverfahren mit sogenannten "vermögenssichernden Maßnahmen" sind selten. 2012 wurden bei Verdächtigen insgesamt 103.000 Euro sichergestellt - im Jahr zuvor waren es noch 340.000 Euro.

Ohnehin ist die Ermittlungsarbeit in dem Bereich schwierig, die Aussicht auf eine Verurteilung der Täter gering, sagt LKA-Mann Blicke. Warum? "Es kommt ganz entscheidend auf die Aussage des Opfers an. Und das hat in der Regel immer Angst." Da sich die Ausbeutung meist zwischen den beiden Menschen abspiele, steht vor Gericht dann Aussage gegen Aussage. "Und die muss dann vom Opfer wirklich lupenrein sein, ohne Widersprüche oder Lücken", sagt Blicke. Manche Fälle seien den Beamten sogar bekannt, die in Hamburg auf dem Kiez nach dem Rechten schauen. "Wir sehen, der Zuhälter schlägt sie, beutet sie aus, aber dann sprechen sich beide zu ihren Erklärungen ab. Da können wir dann nichts machen." Dass die Opferzahlen im Vergleich zum Vorjahr (2011: 640, 2012: 612) leicht abgenommen haben, zeige nicht, dass es auch abseits der Statistik einen rückläufigen Trend gibt, im Gegenteil: "Die Beweisführung wird schwieriger. Bei jedem Ermittlungsverfahren 'lernen' die Verdächtigen dazu", sagt Blicke.

Wie schwer es für die Opfer ist, sich mittels Justiz zur Wehr zu setzen, hat auch Nadia erfahren. Durch eine Razzia in ihrem Bordell wird die Polizei auf die Frau aufmerksam, weil sie keine Papiere mehr hat. Sie kommt in Abschiebehaft. Dadurch lernt sie eine Mitarbeiterin einer Beratungsstelle kennen und entscheidet sich schließlich, doch gegen ihre Peiniger auszusagen. Es folgen zahlreiche Vernehmungen, bis der Mann, den sie für die Vergewaltigungen verantwortlich macht, schließlich vor Gericht kommt. Über mehrere Tage sitzt Nadia ihm als Zeugin im Verhandlungssaal gegenüber. Der Richter glaubt ihre Version jedoch nicht, ihre Aussage wird für unglaubwürdig erklärt und der Angeklagte freigesprochen.

 Um die Situation für die Opfer zu verbessern, hat die EU 2011 eine Richtlinie verabschiedet. Die sieht eine europaweite Definition des Tatbestandes, eine schärfere, gemeinsame Verfolgung der Täter sowie einen besseren Schutz für die Frauen vor. In der Richtlinie ist unter anderem von einer engen, grenzüberschreitenden Zusammenarbeit die Rede. Zudem sollen die Opfer von Menschenhandel nicht mehr bestraft werden, wenn sie ungültige Papiere (die sie meist ja von ihren Ausbeutern bekommen) bei sich tragen. Bis zum 5. April 2013 sollten diese und viele weitere Punkte in nationales Recht übertragen werden. Diese Frist hat Deutschland verstreichen lassen. Die Begründung der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es gebe schon jetzt im Strafrecht eine Vielzahl von Regelungen, die Menschenhandel unter Strafe stellten. Bislang haben nur Schweden, Finnland, Polen, Tschechien, Ungarn und Lettland die EU-Vorgaben vollständig in nationales Recht umgesetzt. Belgien, Litauen und Slowenien nur teilweise.

Die Große Koalition sitzt inzwischen an einem neuen Entwurf. Vor allem einen Punkt fordern die Beratungsstellen hier vehement ein: ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht für die Opfer von Menschenhandel. Bislang ist es so, dass sie zwar während Ermittlungen und Prozess in Deutschland bleiben können und in akuten Fällen auch ärztlich behandelt werden. Sind die Akten geschlossen, haben sie dieses Recht aber nicht mehr.

Nadia ist, nachdem ihre Revision gegen den Freispruch ihres Zuhälters abgelehnt wurde, laut KOK zurück in ihr Heimatdorf gegangen. Der Kontakt zu der Beratungsstelle brach dann ab.

* Name von der Redaktion geändert


Vanessa Steinmetz, 28, ist freie Journalistin und lebt und arbeitet in Hamburg, unter anderem für Spiegel Online und dpa. Fotos: © www.frauenrechte.de, © picture-alliance/dpa Rétablir l'original