Immunsystem : Warum es immer mehr Allergien gibt
Allergien sind ein Warnsignal für einen gefährlichen Trend: Der Mensch beraubt sich seiner eigenen Lebensgrundlage. Die Immunabwehr von Jung und Alt leidet am Verlust der Vielfalt und an Schadstoffen in der Umwelt.
"Eine Allergie?" - Die ältere Frau, die sich wegen eines trockenen Hustens und Atemnot beim Arzt vorstellt, reagiert überrascht auf die Diagnose. Noch nie in ihrem Leben hat sie im Frühling Probleme mit dem Pollenflug gehabt. Doch in diesem Jahr quälen sie ungewohnte Niesattacken, tränende Augen und der hartnäckige Husten.
"Alter schützt nicht vor Allergien", sagt Claudia Traidl-Hoffmann, Direktorin der Umweltmedizin am Uniklinikum Augsburg, die das Beispiel der älteren Dame nennt. Der Höhepunkt des Erkrankungsbeginns läge zwar im Kindes- und jungen Erwachsenenalter. "In meinem Praxisalltag begegnen mir aber auch immer wieder Menschen, die noch im mittleren oder hohen Alter neu an einer Allergie oder Neurodermitis erkranken."
Die Häufigkeit von Allergien hat seit den 1970er Jahren weltweit stark zugenommen. Die Anzahl der von Heuschnupfen betroffenen Menschen hat sich beispielsweise in Deutschland zwischen 1990 und 2011 verdoppelt, aktuell leiden etwa 12,3 Millionen Deutsche daran. Nach Zahlen des Robert Koch-Instituts ist etwa jeder fünfte Erwachsene und jedes vierte Kind beziehungsweise Heranwachsende von einer Allergieform wie Heuschnupfen, allergischem Asthma, Neurodermitis, Nahrungsmittel- oder Kontaktallergie betroffen.
"Mitverantwortlich für den Anstieg der Allergien in den letzten Jahrzehnten sind die Veränderungen der Umwelt, des Lebensstils und der Essgewohnheiten", sagt Traidl-Hoffmann. Diese wichtigen Einflussfaktoren erklärten, warum so viele Kinder und Jugendliche betroffen sind, aber auch, warum Menschen im fortgeschrittenen Alter noch neu an einer Allergie erkrankten.
Seit Jahren gebe es den Trend, dass der Pollenflug von Hasel, Erle und Birke früher im Jahr beginne und die Gräser im Sommer länger blühten, sagt Karl-Christian Bergmann vom Allergie-Centrum-Charité in Berlin. "Wie stark die Symptome sind, hängt jedoch von der Pollenkonzentration ab - ob die tatsächlich etwa durch den Klimawandel angestiegen ist, ist schwierig zu sagen", erklärt Bergmann. Die Pollenmenge schwanke ohnehin von Jahr zu Jahr. Klar sei aber, dass sich die allergene Wirkung von Pollen in Anwesenheit von Schadstoffen in der Luft - wie etwa Rußpartikeln - verstärke.
Generell schützt Vielfalt vor Allergien: "Je vielfältiger die Umwelt, je vielfältiger die Ernährung, desto vielfältiger ist auch die Mikrobengemeinschaft, das Mikrobiom in und auf unserem Körper und desto besser der Gesundheitszustand", sagt Traidl-Hoffmann. Der Anstieg von Allergien sei ein Warnhinweis für einen gefährlichen Trend: Schadstoffe in unserer Umwelt verringerten die Vielfalt der Lebewesen. "Der Mensch beraubt sich seiner eigenen Lebensgrundlage", meint die Augsburger Allergologin. Schadstoffe in unserem Essen, wie zum Beispiel Weichmacher, seien zudem ein wesentlicher Faktor, der uns empfänglicher für chronisch entzündliche Erkrankungen mache, zu denen Allergien gehören. "Das moderne Leben macht uns krank; dazu gehören Schadstoffe auf der einen und der Wegfall schützender Faktoren auf der anderen Seite."
Karl-Christian Bergmann nennt ein weiteres Beispiel, das die Bedeutung von Vielfalt unterstreicht. "Fast jeder Zweite, der eine Birkenpollenallergie hat, kann heutzutage wegen eines oralen Allergiesyndroms - Kribbeln, Jucken, Schwellungen im Mundbereich - keine Äpfel mehr essen." Die wenigen "modernen" Apfelsorten in den Supermärkten enthielten meist weit mehr Allergene, auf die Birkenpollenallergiker wegen der Ähnlichkeit von Molekülen im Pollen und im Apfel reagieren, als alte Apfelsorten.
Allergien sind allgegenwärtig, sie sind in den Industrienationen eine der häufigsten Erkrankungen überhaupt. Bei den vielen teils widersprüchlichen Zahlen und Statistiken, die es zum Thema Allergien gibt, muss man allerdings zwei Arten von Betroffenen unterscheiden.
Einerseits gibt es Menschen, die Allergiesymptome nach dem Kontakt mit eigentlich harmlosen Stoffen aus der Umwelt zeigen. Ihr Körper reagiert mit spürbarer Abwehr auf der Haut, in den Atemwegen, im Verdauungstrakt. So genannte IgE-Antikörper binden dabei an das Allergen und aktivieren Immunzellen, die eine Entzündungsreaktion auslösen.
Andererseits haben manche Menschen die IgE-Antikörper im Blut, zeigen aber nicht unbedingt Symptome: Zählt man diese, fallen die Zahlen viel höher aus. Sie sind gegenüber harmlosen Umweltantigenen sensibilisiert. Die "Deutsche Ärztezeitung" schreibt, 32 Millionen Deutsche würden als allergisch belastet gelten, also sensibilisiert sein. Das heißt nicht unbedingt, dass sie auch Symptome haben. 34 Prozent der Erwachsenen (und 37 Prozent der 3- bis 17-Jährigen) sind gegenüber eingeatmeten Allergenen sensibilisiert (häufige Pollensorten, Katzen- und Hundeschuppen, Hausstaubmilbe, Schimmelpilz), 26 Prozent der Erwachsenen gegenüber mindestens einem Allergen in Nahrungsmitteln und 23 Prozent gegenüber einem Allergen in Insektengift.