Liga und Verband haben die Schulen als Zukunftsthema entdeckt. Mit der Aktion „Handball-Stars go School" soll die Sportart der jugendlichen Basis nähergebracht werden
Von Ullrich Kroemer
Ein trüber Dienstagmorgen in Leipzig. Ab und zu fallen ein paar Nieseltropfen, es ist kälter als an den Tagen zuvor. Rings um die 84. Mittelschule scheint der Tag noch ein wenig grauer als ohnehin - doch das hat mit dem Wetter gar nicht so viel zu tun. Die Schule liegt in Leipzig-Grünau, einer Plattenbausiedlung im Westen der Stadt. Ein Haus sieht hier aus wie das andere. Wie in allen größeren Städten der DDR entwarfen die sozialistischen Stadtplaner die riesige Siedlung Mitte der achtziger Jahre am Reißbrett. Im Gegensatz zu den maroden Altbauten versprach das Wohnen in den Neubaublocks Fernwärme und bescheidenen Wohlstand. Und dann kam die Wende.
Heute, da Leipzigs Gründerzeit-Straßenzüge in den zentrumsnahen Vierteln fast komplett renoviert sind, leben in Grünau vor allem sozial schwache und Migrantenfamilien - sozialer Brennpunkt heißt das in den Medien. „Wir haben hier eine Schülerklientel", sagt Schulleiterin Martina Schulz, „deren Eltern fast alle Hartz-IV-Empfänger sind." Weil der „Sport Vorbilder bietet und man aus eigener Kraft etwas erreichen kann", konzentriert sich die Einrichtung besonders auf Sport. Und der bringt an diesem grauen Tag Leben in die Plattenbausiedlung.
Wegen der engagierten Bewerbung von Karl-Heinz Rutke, Sportlehrer und Fachgebietsleiter, wurde auch die 84. Mittelschule unter 752 Schulen für die Aktion „Handball-Stars go School" ausgewählt. Die von der Handball-Bundesliga (HBL), Sponsor Toyota und dem Deutschem Handballbund (DHB) erdachte Aktion ist das bislang größte Breitensportprojekt im deutschen Handball. Bereits seit März tourt das Team 14 Wochen lang durch ganz Deutschland und besucht insgesamt 25 Bildungseinrichtungen. Die Organisatoren bieten den Schülern gemeinsam mit Stars wie dem scheidenden Bundestrainer Heiner Brand und den ehemaligen Nationalspielern Christian Schwarzer, Markus Baur oder Daniel Stephan einen Trainingsvormittag, dazu gibt es Autogrammstunden, Fragerunden und Schulhofwettbewerbe. Stars zum Anfassen eben.
An der 84. Mittelschule hat sich an diesem Morgen kein Geringerer als Handball-Ikone Stefan Kretzschmar angesagt. Dazu stehen bereits die Nationalspielerinnen Anne Müller und Katja Schülke vom HC Leipzig in Trainingskleidung in der Halle. Nervös prellen, dribbeln und werfen die 30 Schüler im Alter zwischen elf und 16 umher, aus den Boxen dröhnt der Song „I need a dollar" von Aloe Blacc.
Und dann ist er plötzlich da. Kretzschmar steht in seiner Trainingsmontur im Türrahmen, lässig, Kaugummi kauend. In der Halle wird getuschelt und gestarrt. Der Handball-Punk gibt sich die Ehre. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wird klar, dass nur zwei der 30 Kinder und Jugendlichen Handballkenntnisse haben. Die anderen sind Volley- oder Fußballer. „Was denn, nur zwei Handballer?", fragt Kretzsche. „Dann werdet ihr heute zu welchen gemacht!" Schulleiterin Martina Schulz sagt eindringlich: „Nutzt die Chance."
Das Kommando beim Training übernehmen nun Sven Strübin, Co-Trainer des örtlichen Drittligisten SC DHfK Leipzig, und Jugendkoordinator Daniel Andrä. „Wir versuchen die Inhalte eines ganzen Jahres auf drei Stunden herunterzubrechen", sagt Strübin. Kreisläuferin Anne Müller und Torhüterin Katja Schülke, beide Nationalspielerinnen des HC Leipzig, stehen bei den ersten Koordinations- und Erwärmungsübungen genau wie Kretzschmar noch etwas unentschlossen auf dem Feld. Nach den ersten Minuten fragt Kretzschmar cool: „Braucht ihr 'ne Pause? Gibt's nicht!"
Die Schüler sind trotz mangelnder Vorkenntnisse mit Eifer bei der Sache. Viele beweisen einiges Geschick mit der kleinen Kugel. Nach kurzer Zeit haben sich die Handballpromis ihre Trainingsgrüppchen gesucht. Kretzschmar, Müller und Schülke geben zahlreiche Tipps beim Erlernen des Einmaleins des Handballs. Fangen, passen, werfen. Immer wieder korrigiert Kretzschmar eine Gruppe älterer Schüler. Einige lässt er sogar Liegestütze machen. Zwischen zwei Übungen will einer wissen, welchem Umfang Kretzsches Bizeps habe. In der Pause sagt der blonde Junge, dass er sich sehr gut vorstellen könne, zum Handball zu wechseln. Die ersten Erfolge stellen sich an diesem Vormittag also langsam ein.
Unterdessen sind Frank Bohmann, Geschäftsführer der Handball-Bundesliga, und HBL-Marketingmann Mark Schober in der Halle eingetroffen. Beide sind gerade wegen des All-Star-Games in Leipzig, das in der Pleißestadt etabliert werden soll, und überzeugen sich nun persönlich vom Erfolg der Aktion „Handball-Stars go School". „Die Schule ist das wichtigste Zukunftsthema, nicht nur im Handball", sagt Schober. Weil eine gute Verbindung zwischen Verein und Schule angesichts der stetig wachsenden Verbreitung von Ganztagsschulen immer bedeutender werde, haben sich HBL und DHB die Turnhallen und Schulhöfe für ihre Aktion ausgesucht. Weil sich Sponsor Toyota nicht nur für Spitzenhandball, sondern auch für den Breitensport einsetzen will, sei der Konzern sofort angesprungen. Eine hohe sechsstellige Summe, an der sich alle drei Parteien beteiligen, koste die Aktion insgesamt, sagt Bohmann. Während die Jungen und Mädchen bei zwei Trainingsspielchen um den Ball streiten, redet Schober im Marketingdeutsch von Multiplikatoren, die man durch die Aktion für den Handball gewinnen wolle. Und Nachhaltigkeit, um die Schüler auch über den Trainingsvormittag hinaus vom Handballsport zu begeistern. Einen ersten Effekt hat das Projekt bereits: Die 84. Mittelschule und der SC DHfK Leipzig haben eine Zusammenarbeit vereinbart.
Nach Schulhof-Wettbewerben, weiteren Trainingseinheiten und einem Spiel gibt Stefan Kretzschmar bei der abschließenden Fragerunde - ganz der vernünftige Mentor - seinen Schützlingen mit auf den Weg, einen Abschluss zu machen, der ihm wegen seiner Karriere im Leistungssport versagt geblieben sei. Später sagt der einstige Linksaußen: „Es ist zwar etwas schade, wenn man so 'ne Aktion macht und die Schüler haben keine Handball-Vorkenntnisse. Aber es ist für uns auch wichtig, in dem Bereich etwas zu bewegen und dazu anzuregen, Handball zu spielen. Den Kindern hat es auf jeden Fall Spaß gemacht." Stellvertretend für die anderen Schüler sagt der 16 Jahre alte Anatolij zum Abschluss der etwas anderen Unterrichtseinheiten: „Es war zwar ein bisschen anstrengend, aber lustig." Mandy, 14, fand die Aktion „cool, mal etwas ganz anderes als Schule".
Aus dem tristen Schulgebäude stecken andere Schüler, die nicht am Training mit den Promis teilnehmen konnten, neugierig ihre Köpfe. Immer wieder fällt der Name Kretzschmar. Durch die unsanierten Fenster sieht man auf dem Rückweg eine stattliche Anzahl an Pokalen im Erdgeschoss stehen, ordentlich in Vitrinen aufgereiht. Sport ist eben der ganze Stolz der Schule. Und für viele Schüler die größte Chance. „Handball-Stars go School" hat sicher einige angeregt, diese auch im Handball zu suchen.