Die Sehnsucht von Meylin braucht nicht mehr Raum als ein ruhiges Zimmer. Die 25-Jährige lehnt sich in die tiefen Polster ihres Sofas, schließt die Augen und gleitet in eine andere Welt - weit weg aus Havanna. Einen Moment lang dauert es, dann ist sie in Gedanken in Paris: ein regnerischer Tag an der Champs-Élysées, Europas Prachtboulevard. Einen Augenschlag weiter, und sie blickt von ihrer Gondel aus auf die Rialtobrücke in Venedig.
Meylin ist eine junge Romantikerin, sie sehnt sich nach solchen Orten. Sie glaubt an Glück und Unglück und an das Schicksal. Glück, sagt Meylin, weil sie wohlauf und gesund bei ihrer Familie lebt. Unglück, weil sie Kuba, die Trauminsel, noch nie verlassen hat. Und Schicksal, dafür sei sie noch zu jung, glaubt sie.
Meylin, die in Wirklichkeit anders heißt, hat ihr bisheriges Leben in Kuba verbracht - und trotzdem kann sie über erstaunlich viele Weltengegenden berichten. Über die Internetplattform "Couchsurfing", schließt sie Kontakte mit jungen Rucksackreisenden, die ihr Erzählungen aus erster Hand liefern.
Gäste nur mit Lizenz
Bei einem Durchschnittseinkommen von 400 kubanischen Pesos im Monat, dies entspricht etwa 15 Euro, bleibt das Verreisen ein seltenes Privileg. Vor allem die teuren Flugtickets kann sich hier kaum jemand leisten. Wenn das Reisen schwerfällt, muss eben das Ausland nach Kuba geholt werden, denken sich viele junge Kubaner.
"Couchsurfing", die soziale Plattform für Rucksacktouristen weltweit, unterliegt auf Kuba strengen Vorschriften. Kubaner, die Ausländer beherbergen, müssen eine Lizenz zum Vermieten von Zimmern besitzen - alles andere ist strafbar und kann behördliche Schwierigkeiten einbringen. Meylin zum Beispiel hat kein Lizenz, sie lässt daher niemanden in ihre Wohnung und trifft ihre Gäste nur, um ihnen die Stadt zu zeigen.
Wie hoch diese Strafen wären, weiß hier keiner so genau. Trotzdem geben viele ihre Daten in die Anmeldemaske des US-Unternehmens ein: In einem Umkreis von zehn Kilometern um Havanna sind etwa 60 aktive Couchsurfing-Profile verzeichnet. Strafen waren "bislang kein Thema", sagt Gerardo, der schön öfters vermietet hat. Viele der aktiven Couch- und Wohnungsbesitzer leben zusammen mit ihren Eltern weit draußen am Stadtrand. Sie bieten dort ihre Zimmer in einer simpel eingerichteten Wohnung an: einfaches Bett mit Blick auf eine marode Vorortstraße. Für Backpacker eine Alternative zu den offiziellen Casas Particulares und den hochpreisigen Hotels.
Der schlechte Internetzugang aber erschwert vielen das "Couchsurfen". Kubas Netz steckt in den Neunzigern fest, zu schwerfällig und langsam ist es, doch seine Internetgeneration ist einfallsreich. Immer wieder greifen junge Tüftler auf das verschlüsselte WLAN der teuren Hotels zu und geben die Zugangscodes weiter. "Innerhalb kurzer Zeit sitzen 30 bis 40 Leute mit einem Smartphone in der Hand vor dem Hoteleingang", sagt Meylin.
Laut einer Studie der internationalen Fernmeldeunion besitzen nur etwa drei Prozent der kubanischen Haushalte einen eigenen Internetanschluss. In den kommenden fünf Jahren soll sich die Zahl auf 50 Prozent erhöhen, versprach die Regierung unlängst. Ausgerechnet die USA werden die notwendigen Technologien liefern, um die Karibikinsel für den Weltmarkt zu wappnen. Meylin kann jetzt schon täglich auf die beliebtesten Internetseiten zugreifen. Wie die Mehrheit aller erwerbstätigen Kubaner arbeitet sie in einem staatlichen Unternehmen.
Liebe auf den ersten Blick
An der Uferpromenade Malecón, an der das Meer gegen die modrige Kaimauer von Havanna schlägt, treffen sich junge Großstädter. Gerardo ist einer von ihnen, geborener Habanero, sein Leben hat er bislang zwischen dem Wirtschafts- und Ausgehviertel Vedado und dem historischen Alt-Bezirk Vieja verbracht. Hier schlägt das Herz der Stadt, und der Malecón verbindet sie miteinander, wie ihre Hauptschlagader.
"Im Ausland war ich noch nie", sagt Gerardo, während er andächtig auf das stille Meer hinausblickt. "Aber bald werde ich zum ersten Mal fliegen, ich bin mit einer Schwedin verheiratet", sagt der 29-Jährige mit Afrofrisur vorsichtig. Es ist die Geschichte seines Lebens: "Sie kam als Touristin nach Kuba, wir haben uns über Couchsurfing kennengelernt, es war Liebe auf den ersten Blick." Danach folgte ein reger Nachrichtenaustausch, irgendwann war die Entscheidung da - sie wollten heiraten.
Bis Gerardo sie, die Schwedin traf, war er einer jener Überlebenskünstler, wie es sie nur in Kuba gibt. Mit Gelegenheitsjobs im Tourismus hielt er sich über Wasser, irgendwann lebte er sogar auf großem Fuß. Manchmal verdiente er zehnmal mehr als ein Akademiker in seiner eigenen Berufssparte. Viele Uni-Absolventen drängen entschieden in den Tourismus, um an die begehrten Devisen zu kommen, die fest an den Dollar gekoppelt sind. So lässt es sich auf der Trauminsel leben.
Warnungen an Touristinnen
"Weibliche Touristinnen, nehmt euch in Acht", mit dieser Überschrift warnt eine US-Bloggerin, die sich "Kelly" nennt. Sie meint damit jene kubanischen Männer, die unter dem Begriff "Jineteros" auf der Insel berüchtigt sind. Diese "Reiter" würden gezielt Touristinnen ansprechen, nach schneller Liebe und Geld suchen oder versuchen, sie dazu zu bringen, mit ihnen auswandern zu dürfen.
Und das Gastfreundschaftsnetzwerk Couchsurfing bietet einen Weg, um unbehelligt in Kontakt zu treten, schreibt Kelly. Sind "Jineteros" wirklich hinterhältig? "Wir machen nichts Verbotenes, es gehören ja immer zwei dazu", kommentiert ein junger Kubaner nüchtern. Auch er hat ein Profil auf Couchsurfing, auch er arbeitet in einem staatlichen Betrieb, wo er guten Zugang hat.
Und Geld lässt sich damit auch verdienen, denn in Kuba ist nichts umsonst. Anders als es das Couchsurfing-Prinzip vorgibt, nämlich jemand Fremden gratis bei sich übernachten zu lassen, wird auf der Insel eine Gebühr von etwa fünf CUC pro Nacht verlangt.
Im abendlichen Wohnzimmer der Habaneros, dem Malecón, flanieren schaulustige Touristen, dazwischen umturteln Paare einander. Nachdem die Sonne in Opalfarben untergegangen ist, will auch Gerardo losziehen. "Ich habe bis zu meiner Abreise noch viel Behördliches zu erledigen, das alles klingt so unecht für mich", sagt er beim Abschied. Seine Freunde wird er so bald nicht mehr wiedersehen.