Es sollte nur ein Gespräch darüber werden, wie man Kindern vorliest. Und dann geht es im stern-Interview mit Cornelia Funke um Gut und Böse, Krieg und Tod - und um den Trost, der in Geschichten liegt.
Sie sitzt im Licht eines Fensters, hinter ihr, auf dem Sofa, streckt ein Hund die Beine in die Luft und rekelt sich. Cornelia Funke, 64, ist die international erfolgreichste deutsche Jugendbuchautorin. Sie lebt in einem Haus in der Toskana, lässt junge Künstlerinnen und Künstler bei sich wohnen und arbeiten. Für das Zoom-Gespräch mit dem stern hat sie sich eine halbe Stunde frei gehalten, es werden anderthalb. Wenn Cornelia Funke richtig zu erzählen beginnt, wird ihre Stimme anders, fließend wie ein Bach, auf dessen Grund es schimmert, als läge dort ein Geheimnis.
Frau Funke, haben Sie Ihren Kindern vorgelesen?
Eigentlich
die ganze Zeit. Es begann mit schwedischen Bilderbüchern, "Pettersson
und Findus", dann die "Kasimir"-Bücher, auch aus Schweden, über einen
Biber, der alles Mögliche baut. Man könnte sagen, wir waren viel in
Schweden zusammen. Vorlesen heißt ja, gemeinsam auf eine Reise zu gehen.
Als ich Schweden später tatsächlich besuchte, dachte ich: Da bin ich zu
Hause, das kenne ich ja.
Ihre Kinder sind heute erwachsen.
Ja,
Anna wurde 1989 geboren, Ben 1994. Die beiden waren auch Fans von
Erhard Dietls "Olchis" und Paul Maars "Das kleine Känguru". Als Anna
noch nicht lesen konnte, kannte sie die Bücher auswendig. Wenn ich beim
Vorlesen ein Wort vergaß, fand sie das eine Weile ärgerlich, aber
irgendwann bat sich mich, mehr Fehler zu machen und die Geschichten zu
ändern. Das war ein großer Spaß für uns beide. Später kamen Astrid
Lindgren und Michael Ende, dann "Harry Potter". Und der "Herr der Ringe"
natürlich.
Ist der was für Kinder?
Ich war etwa 20, als ich
meinem Bruder, der sieben Jahre jünger ist, die ganze Trilogie
vorgelesen habe, ebenso meinen Cousins. Mit neun und elf waren sie
eigentlich noch zu jung, mein Gott, die ganzen Schlachten. Aber sie
liebten die Bücher so sehr, dass sie Elbisch schrieben und Bilder dazu
malten. Bis ihre Mutter
sich beschwerte, dass sie ständig von Figuren und Welten sprachen, die
sie nicht kannte. Beim Vorlesen gelangt man an Orte, an die man sonst
nicht kommt, durch den Schrank, durch einen Spiegel, nach Mordor oder
ins Auenland.
Wurde Ihnen selbst als Kind auch vorgelesen?
Meine
Großmutter war eine große Geschichtenerzählerin, aber mein Vater war der
Vorleser. Wir gingen zu Fuß zur Bücherei, auch wenn das eine halbe
Stunde dauerte. Dann liehen wir viel zu viele Bücher aus, trugen sie
zurück – und dabei redeten wir. Zu Hause setzten wir uns aufs Sofa, und
er las mir vor. Ich weiß noch, wie ich mich dabei fühlte: geborgen. Es
ist wie bei unseren Lieblingsbüchern, wir können den Plot nicht mehr
erzählen, aber wir erinnern uns an das Gefühl, eine eigene Zeit, einen
eigenen Ort, ein eigenes Abenteuer zu haben.
(...)
stern #8/2023
Rétablir l'original