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Reportage

Pius, der Wilderer

Es heißt,
die Bauern von Kalkstein,
einem Osttiroler Bergdorf
in 1641 Meter Höhe,
kämen im Jahr nur zweimal ins Tal,
im Sommer mit den Gerölllawinen
und im Winter mit dem Schnee. 

Alte Geschichten sind das,
Legenden,
zu Sprichwörtern erstarrte Wörter,
die heute so herumstehen
in der Welt,
wie die Berge ringsum.



PIUS

Man müsste die Toten fragen, was wahr ist und was bloß erfunden, aber sie reden nicht mehr, es ist genug. Sie liegen im Schatten des Kirchturms von Maria Schnee in der Erde. Sie sind im Kindbett gestorben, in den Stuben, auf den Feldern, im Eis, trotz der Gebete, trotz der ganzen Knierei vor dem Gekreuzigten, sie sind erfroren und verhungert und wurden von der Pest dahingerafft, als mit den Nachbarn der Tod an die Stubentür klopfte. 

Dreizehn Gräber umringen die kleine Kirche, wie Kinder, die darauf warten, einander im Reigen an die Hand zu nehmen; zwölf schmale Kreuze aus Eisen, ein Grab ist groß und breit und aus hellem Stein.

Ein junges Gesicht, breite Koteletten, ist in diesen Stein gemeißelt. „Hier ruht Pius Walder”, steht da, und: „Ich wurde am 8. September 1982 in Kalkstein von zwei Jägern aus der Nachbarschaft kaltblütig und gezielt beschossen und vom 8. Schuss tödlich in den Hinterkopf getroffen.”


Ein Friedhof soll still sein, friedlich, kein Ort des Streits oder der Rache. Doch vieles ist anders in Kalkstein, seit diesem Abend vor fast 40 Jahren. Seitdem geht ein Riss durchs Dorf, man kann ihn manchmal noch spüren. Es heißt, Gott vergebe, ein Tiroler nie.


Damals hallten Schüsse durchs Tal, immer wieder krachte es, als schlüge der Leibhaftige die Faust gegens Kirchentor.


Blaulicht zuckt über die dunkel bewaldeten Hänge, der Rettungswagen entfernt sich von Kalkstein, gleitet durch die Nacht, die schmale gewundene Straße entlang, hinab ins Tal, wo Lichtpunkte flimmern, nach Lienz.


Im Wagen liegt ein junger Mann; er ist ohne Bewusstsein, das Gesicht rußgeschwärzt. Im Spital hieven sie ihn auf einen Operationstisch. Er stirbt nach Mitternacht. Todeszeit: etwa 1 Uhr, 9. September 1982. Name: Pius Walder. Alter: 30 Jahre. Beruf: Holzfäller. Am Morgen wird seine Leiche obduziert.


Aus dem Bericht der Gerichtsmedizin:


Die Leiche liegt in Rückenlage. Die Hinterseite des Rumpfes, der Oberschenkel, der Arme und die Hinterkopfgegend liegen förmlich in einem Blutsee. Im Bereich der aufliegenden Körperabschnitte reichlich flüssiges, teils angetrocknetes Blut.


Die Totenflecken im Bereich der hinteren und seitlichen Körperabschnitte mäßiggradig blauviolett ausgebildet, die Leiche greift sich äußerlich kalt an, die Gelenke kräftig totenstarr.


Die Körperlänge wird mit 183 cm angemessen, das Körpergewicht mit ca. 90 kg angenommen, es besteht eine ausgesprochen athletische Körperstatur.


In der Hinterkopfmitte 3,5 cm vom ersten Halswirbelkörper entfernt, findet sich eine typische Einschußwunde. Das Gesicht ist noch teilweise rußgeschwärzt. Oberlippenschnurrbart und Koteletten braun.


Das Projektil drang in den Hinterkopf, zerpflügte große Teile des Gehirns und trat an der linken Schläfe wieder aus. Soweit die Fakten. Sie stehen in der Schwärze dieser Geschichte wie Fackeln.


Den Verletzungen nach, schreiben die Ärzte, habe es sich um einen Fernschuss gehandelt. Suizid sei praktisch ausgeschlossen. Hier enden die Fakten, ab hier wird es dunkel.


Der Walder Pius ist tot, und oben in Kalkstein läuten in der Morgendämmerung die Glocken von Maria Schnee. Ein Dutzend Höfe drumherum, wie hingestreut, gedrungene Häuser aus dunklem Holz mit engen Fenstern. Manche Häuser stehen so eng beisammen als würden sie einander wärmen, andere halten Abstand, als belauerten sie sich.


Noch sind die Reporter nicht da, noch heißt das Villgratental nicht „Mördertal“, noch ist keine Rede von „Menschenjagd“, „Blutrache“ und „Selbstjustiz“, noch ist nicht „Krieg in Kalkstein“ – Jäger gegen Wilderer. Es herrscht geschäftige Ruhe, vielleicht zum letzten Mal.


(...)


stern crime #41