Jena ist heute der Leuchtturm des Ostens, wie es sich selbst nennt. Doch vor dem Wandel zur Boomtown dank Universität, Optik-Industrie und Bürgergesellschaft war erstmal das Nachwendechaos der Neunziger. Ein Jenaer Plattenbau-Kind sitzt heute Woche für Woche in München seinen Prozess ab: Beate Zschäpe, Mitglied des NSU. Wie konnte sie sich hier zur Terroristin radikalisieren?
Der Jugendpfarrer Lothar König hat erlebt, wie die neue Freiheit viele orientierungslos gemacht hat. "Da wird ja heute offen drüber gesprochen, über das Versagen aller möglichen gesellschaftlichen Kräfte, von Schule, Lehrern, Verantwortungsträgern einer Gesellschaft. Die hatten sehr stark damit zu tun, mit sich selber zurechtzukommen, in dieser etwas unübersichtlichen Zeit und hatten kein eigenes oder ein nur schwach entwickeltes Wertesystem. Die staatliche Ordnung war so ein Stück zusammengebrochen."
König ist ein kleiner Mann mit rauschendem Karl-Marx-Bart. Er leitet seit 1990 die Junge Gemeinde Stadtmitte, die in einem der Jugendstilhäuser der gemütlichen Innenstadt residiert. Die Junge Gemeinde, kurz JG, war das einzige Autonome Jugendzentrum der Stadt zu DDR-Zeiten, getragen von der Evangelischen Kirche. Nach der Wende wurden die Linken dort von Neonazis durch die Stadt gejagt.
"Jugendliche, die hier in die JG gekommen sind, wenn die dann abends oder nachts nach Hause sind, sind da manche wirklich die fünf bis sieben Kilometer bis Lobeda zu Fuß gegangen, weil die Straßenbahn einfach zu unsicher war. Es konnte jederzeit passieren, dass da so ein Trupp Nazischläger einsteigt und dann weißt du nicht, wie du da wieder herauskommst. Was am Ende auch ein böses Spiel war. Man wusste, wo die Leute wohnen und man hat dann an den Haltestellen auf die gelauert - richtig in Gruppen."
Eine gewachsene Zivilgesellschaft
Längst wird man nicht mehr zusammengeschlagen, wenn man zur Jungen Gemeinde will. Heute steht die Stadt hinter dem Jugendclub und verehrt den charismatischen Kettenraucher Lothar König, auch wenn er im konservativen Nachbarbundesland Sachsen immer wieder vor Gericht steht, wegen seines antifaschistischen Engagements in Dresden und in Leipzig. In den Neunzigern aber waren die Punks und Hippies für viele hier in Jena auch Teil des Problems. Der Vorwurf war, so Lothar König, "dass wir es ja überhaupt erst sind, die diese Leute zu Nazis machen, dass wir diese Feindbilder brauchen, um selber zu existieren. Das ging richtig durch den Stadtrat und war weitestgehend allgemeine Meinung von der CDU-Fraktion hier im Jenaer Stadtrat."
Menschen mit offensichtlich rechter Gesinnung sieht man heute auch in Lobeda kaum noch. Und das liegt nicht nur an der JG oder daran, dass inzwischen ein Viertel der 100.000 Einwohner von Jena Studierende sind. Es liegt auch an einer gewachsenen Zivilgesellschaft. Zur Zeit versucht die AfD, die bereits seit 2014 im Thüringer Landtag sitzt, auch in Jena Fuß zu fassen. Doch die Auftaktdemo der AfD im Januar haben die Jenaer Bürger erfolgreich blockiert. Dass sich hier nicht nur linke Antifas auf die Straße setzen, hat eine lange Tradition. 2007 wollte die NPD ihr Rechtsrock-Festival Fest der Völker in Jena feiern - und hat die Zivilgesellschaft damit aufgerüttelt, sagt Eckart Hesse vom Aktionsnetzwerk: "Das Aktionsnetzwerk hat seine Wurzeln praktisch aus einer Erfahrung heraus, die es 2007 in Jena gegeben hat. 2007 gab es das Fest der Völker hier in Jena, und kurz davor einen Hess-Marsch. Und dieser Hessmarsch war eine ziemlich traumatisierende Erfahrung für die Stadtgesellschaft."
Rudolf Heß, der Stellvertreter Hitlers, wurde auch hier von den Rechten verehrt. Doch bald darauf organisierte Jena Widerstand und schon seit 2008 hat es in Jena keine nennenswerte Aktion von Rechts mehr gegeben. Wahrscheinlich liegt das auch daran, dass sich alle Parteien im Stadtrat einig sind: Es ist richtig, sich gegen Nazis auf die Straße zu setzen. Eckart Hesse: "Es ging darum zivilen Umgang, kollektive Regelverletzung, massenhafte Menschenblockaden offen zu bewerben und nicht in einer verdeckten Gruppe heimlich zu organisieren."
2015 ist Jena das "München des Ostens". Hier wollen viele hierher: Familien, Studenten, Start-Ups. Auch das Nachtleben zieht die Menschen an. Der Klub Kassablanca ist bis weit über Thüringer Landesgrenzen hinaus bekannt - wie das Technolabel "Freude am Tanzen". Dirk Foch, alias DJ Foch, ist ein Kind der Nachwendezeit: "Aus heutiger Sicht kann man eigentlich sagen, die Zeit nach der Wende war geil, weil die Behörden waren lahm gelegt. Man konnte halt im Osten relativ viel machen, die ganzen Sachen, die sich so aufgestaut haben, die in Biedermanns Zeiten nicht so gewünscht waren. Man konnte sich ausleben, ob das Garagenpartys waren oder Kellerpartys. Es hat keinen gegeben, der das groß kontrolliert hat."
Klubs wurden in dieser Zeit nicht gemietet, Klubs wurden besetzt. Schon allein darin sind die Menschen der elektronischen Subkultur im Osten immer auch politisch gewesen. Thomas Sperling, Labelchef von Freude am Tanzen: "Die haben dann Off-Locations gefunden und diese Off-Locations zu Klubs umgebaut, diese Monoausrichtung. Die haben dann nur einmal in der Woche aufgemacht, an einem Samstag und dann haben die Party gemacht, das hat sich dann von diesem klassischen Diskogeschäft emanzipiert und hat dann so eine eigene Art von Klubkultur entwickelt."
Inzwischen haben sich die Verhältnisse normalisiert, die Kultur-Besetzer haben sich zu Vereinen zusammengeschlossen und kooperieren mit der Stadt und der Uni. Doch das Familiengefühl ist geblieben. Und auch die Menschen sind dageblieben - anders als in vielen anderen Städten des Ostens. Der Aktivist Harald Zeil beschreibt es so: "Das ist vom Lebensgefühl her eine Großstadt auf ganz kleinem Raum. Es macht Spaß hier zu leben und ist spannend."