"Headlines und Deadlines. Nichts Edles." So lässt der kanadische Ex-Journalist Tom Rachman in seinem Debütroman "Die Unperfekten" einen abtretenden Chefredakteur seine Arbeit beschreiben. Die Romanfigur lügt; selbst in seinem Schlusswort wahrt der schwer kranke passionierte Blattmacher professionelle Nonchalance. Hätte Rachman seinen Erstling mit derselben Indifferenz geschrieben, er wäre die simplere Version des Meisterwerks geworden, als das er weltweit gefeiert wird.
Stattdessen schreibt der erst 36-jährige Rachman zwar mit dem Flair, das man von einem Ex-Auslandskorrespondenten der AP in Rom und Schreiber für die International Herald Tribune in Paris erwarten darf - doch bei Charakterzeichnung und Symbolik übertreibt er so schamlos, dass das Buch zur Groteske wird.
Tragikomisch brillant
Dem Roman über das hässliche Ende einer ambitionierten internationalen Zeitung schadet das nicht. So tragikomisch brillant sind die elf aus der Sicht der Hauptcharaktere erzählten Kapitel, dass jedes einzelne mühelos als Kurzgeschichte durchgeht. Kombiniert sind sie noch einmal deulich mehr als die Summe ihrer Teile. Die (unausweichlichen?) Journalisten-Schicksale müssen jeden berühren, der jemals Interesse an unserer Profession gezeigt hat.
Da wären der Sohn der Edelfeder, der bei vollem Bewusstsein als Nachrufe-Schreiber und Rätselseiten-Bastler dahinvegetiert. Die toughe Wirtschaftsreporterin, die ihr Privatleben fast so bombastisch vergeigt wie die einsame Textredakteurin vom Nebentisch, das Mobbingopfer der Redaktion. Auch alle anderen Eckpfeiler unserer Realität finden ihren Platz: Ausgebootete Auslandskorrespondenten, manisch treue Leser, das Lechzen nach den kurzen Glücksmomenten, demütigende Redigaturen, der so unheimliche wie unaufhaltsame technische Fortschritt. Die Erkenntnis, dass Nachrichtenwert "oft bloß eine höfliche Umschreibung für die Marotten von Chefredakteuren" ist. Abnehmende Auflagen, zunehmende Tippfehler und Lästereien. Seitensprünge, Renditedruck und die allgegenwärtigen Arbeitsmaterialien Alkohol und Zigaretten.
Es hätte ein beklemmendes Sittengemälde sein können, ein quasi-komplettes Kaleidoskop des Zeitungsjournalismus in seiner kritischsten Phase.
Diese Chance nimmt sich Rachman, indem er das Schwarzbuch des pedantischen (und privat unterwürfigen) Vorstehers der Redigatur-Diktatur auf absurde 18.000 lexikalische Einträge anwachsen lässt. Indem er einen Studenten ohne jegliche journalistische Erfahrung in den Kampf um einen Korrespondenten-Job in Ägypten schickt. Wo er den Job an einen Kriegsreporter-Veteranen mit Army-Kluft und Surfer-Slang verliert (ebenso wie auch Bett, Laptop und Selbstwertgefühl), weil der ein Terrorcamp nach dem anderen besucht. Und nebenbei die Flamme des Landeis flachlegt, während der sich bemüht, verschleierte Frauen zu O-Tönen über Swingersex zu bewegen.
Die Redakteure der (namenlosen) Zeitung haben es derweil bis Anfang 2007 geschafft, sich gegen die Einrichtung einer wie auch immer gearteten (!) Website für ihr Blatt zu wehren. Und der Jungverleger, der sie alle vor die Tür setzt, ist von der Entscheidung selbst völlig überrumpelt: Er hat nicht nur das Redaktionsgebäude seit Jahren gemieden, sondern auch noch nie eine Bilanz in der Hand gehabt. Von seinen geschäftstüchtigeren Geschwistern in die fernste Ecke des Familienkonzerns abgeschoben, hatte der Misanthrop seine Jahre in Rom stattdessen im Zwiegespräch mit Schoßhund Schopenhauer verbracht.
Harmlose Karikatur oder grimmiger Ausblick?
Die eine Erklärung für diese irritierende bis ärgerliche Karikierung ist, dass sich Rachman mit Hinweis auf diese grotesken Elemente jeder Debatte um die Realismusnähe, die Ernsthaftigkeit hinter seinem Buch überhaupt entziehen kann. "Deniability" nennt sich dieses Konzept hinter der Überspitzung im Englischen: Männermagazine etwa können so gleichzeitig ihrer Leserschaft gerecht zu werden und jegliche Sexismusvorwürfe abschmettern, frei nach dem scheinheiligen Motto: Das alles kann doch keiner ernst meinen. Rachman könnte aus Liebe zur Zeitung dasselbe tun, er könnte uns kumpelhaft boxen und rufen: Na kommt schon, so schlimm ist es doch gar nicht! Die andere Erklärung ist sehr viel weniger bequem: Rachman übertreibt überhaupt nicht. Die Lage ist wie er schreibt, er greift höchstens minimal vor. Bald, sehr bald, setzt sich seine Karikatur des Kriegsreporters in der wirklichen Welt durch.
Und alle anderen? Vielleicht gibt das Schicksal des talentlosen Möchtegern-Afrikakorrespondenten Winston einen Hinweis. Ihn lässt der Autor glücklich als Pfleger in einem Heim für exotische Tiere im (bitterkalten und gottverlassenen) Minnesota enden: "Nur die Affenkäfige mit Zeitungen auslegen mochte er nicht so gern - er geriet allein beim Anblick von Schlagzeilen in Panik. Aber das Problem hatte er nicht lange: Das Lokalblatt ging ein, und Winston ging zu Sägemehl über."
Tom Rachman: Die Unperfekten. dtv, München 2010. 400 Seiten, 14,90 Euro.
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