Im Oberengadin legt ein Team von Bike-Visionären Trails zum Mountainbiken an. Die Wege sind so gut, dass sich selbst Anfänger auf ihnen zu Tal stürzen können. Wer dennoch Zweifel hat, fährt mit einem lokalen Guide durch die Berge.
Dave schüttelt den Kopf, zieht die Bremsen an und stoppt sein Bike mitten im Trail. "So fährt man nicht bergab. Ich zeige dir jetzt, wie man den Gorilla macht!" Er rollt zur nächsten Kehre. Dabei erhebt er sich aus dem Sattel, geht in die Hocke und spreizt leicht die Beine. "Du sitzt viel zu steif auf dem Bike. Fahr mal die Ellbogen aus, und baue den Oberkörper auf! So bekommst du mehr Bewegungsfreiheit und kannst besser balancieren." Nervös folge ich ihm und versuche seine Ratschläge umzusetzen. Ich stelle die Beine parallel auf die Pedale, beuge mich vornüber - mache den Gorilla. Gut, dass jetzt niemand zuschaut.
Biken im NovemberDas Val Bernina ist die Heimat von Dave Spielmann. Auf der Landkarte drückt es sich wie die Nase eines Puzzleteils in die italienische Provinz Sondrio ein. Heute ist der 1. November. Jetzt zur Mittagszeit steht das Thermometer in 2000 Meter Höhe noch auf 11 Grad. Zu beiden Seiten ragen die Gipfel der Berninagruppe so hoch auf, dass die Schatten bereits weit ins Tal reichen. Noch wärmen die Sonnenstrahlen das Gesicht.
Jetzt bloss nicht versteuern! Sonst lande ich auf dem Dach des Zuges.
Dave zeigt mir seine Hausstrecke. Wir folgen der Nummer 673. Die Bernina-Express-Bike-Tour gilt als eine der schönsten der Schweiz. Sie führt von Samaden im Inntal hinunter nach Poschiavo ganz im Süden des Kantons Graubünden. Die 45 Kilometer und 900 Höhenmeter können Biker gut an einem Tag fahren. Wenn sie sich nicht, so wie ich gerade, in den Abfahrten vor dem Guide zum Affen machen.
Dass ich das heute tue, habe ich Darco Cazin zu verdanken. Er plant in St. Moritz die nächsten Trails. Wir haben uns heute Morgen im Bistro des Hotels Laudinella unterhalten. Dave Spielmann nennt seinen 40 Jahre alten Kumpel eine Legende. Darco Cazin, Vollbart, lässiges Kapuzenshirt, erzählt mit ruhiger Stimme: "Den ersten Trail haben wir vor 14 Jahren in Livigno gebaut. Unser Schwerpunkt liegt in den deutschsprachigen Alpen, vor allem in der Schweiz. Nächste Woche fliege ich nach Japan." Er überreicht mir eine 20-seitige Broschüre. "Genau die Prinzipien, die hier drinstehen, haben wir dort angewendet, wo du mit Dave hingehst."
Während Darco erzählt, schaue ich mir die Fotos an. Sie zeigen Arbeiter mit Pickel und Schaufel. Die Skizzen daneben veranschaulichen das Gestein, die Bodenbeschaffenheit, die Neigungswechsel. Er zeigt auf eine Foto: "Das ist am Bernina. Dort haben wir im letzten Jahr gearbeitet. Der Trail hier führt durch eine geschützte Landschaft. Deshalb müssen wir die höchsten Naturauflagen der Schweiz einhalten. Je nach Temperatur kommt ihr vielleicht bis hier hoch." Darco markiert auf der Karte zwei Stellen, die sie präpariert haben.
Mit unseren E-Mountainbikes gewinnen wir schnell an Höhe. Dave und ich passieren das erste Fähnchen auf der Karte inmitten eines Märchenwalds. Überall liegen Felsbrocken verstreut. Wie die Fangarme eines Kraken winden sich die Wurzeln der Bäume über den Waldboden. Dazwischen Moos. Darüber eine Schicht gelber Nadeln. "Hier wachsen vor allem Lärchen, Arven und Kiefern", sagt mir Dave. "Wir fahren gerade durch den Wald von Morteratsch."
Ich denke an die Worte von Darco Cazin: "Wir passen die Wege an die Bedürfnisse der Biker an."
Jenseits der Baumgrenze weitet sich das Val Bernina und wird zu einem breiten Hochtal. Die schneeüberzuckerten Berge künden vom nahen Saisonende. Die Bäche sind überdeckt von einer dünnen Eisschicht. Als wir sie queren, zerknirscht das Eis. Traumhafte Bedingungen zum Biken. Wären da nicht die kurzen Abfahrten, die den Anstieg unterbrechen. Von Kilometer zu Kilometer werde ich sicherer, vertraue meinem Guide voll und ganz. Oder liegt es an der Trasseeführung, die mir als Trekking-Radler entgegenkommt? Ich denke an die Worte von Darco Cazin: "Wir passen die Wege an die Bedürfnisse der Biker an."
Der Bike-Visionär hat mir erklärt: "Heute ist der Mountainbiker in einer Infrastruktur unterwegs, die für einen anderen Zweck gemacht wurde." In der Region fänden sich viele Wege aus dem Ersten Weltkrieg, sogar noch Handelswege aus der Römerzeit. Weitere seien durch den Handel entstanden, durch Schmuggel, Alpwirtschaft und den Bau der Eisenbahn. Am Bernina stiessen Darco Cazin und sein Team auf eine im Gelände verborgene Wegstruktur. Sie war nur noch in einem Archiv vermerkt. Die alten Elemente wurden ausgegraben und in den Trail integriert.
Zügig über den BerninapassIn manchen Abschnitten folgt die Bike-Strecke den Gleisen des Bernina-Expresses. Dave und ich erreichen den Lago Bianco, den Weissen See. Der Weg windet sich den steilen Hang hinauf. Knirschend rollen die Stollenreifen über den Kies. Der Blick fällt in die Tiefe, hinab zum See. Das Wasser leuchtet türkis. Ein Quietschen durchschneidet die Stille. 20 Meter unter uns zieht einer der erdbeerroten Züge dem Pass entgegen. Jetzt bloss nicht versteuern! Sonst lande ich auf dem Dach des Zuges.
Dave fährt traumhaft sicher und erzählt: "Mit unseren Kunden biken wir oft über den Berninapass." Oben auf 2235 Metern wendet er sein Bike, deutet hinüber zur Berninagruppe. Die Sonne steht bereits tief über den Gipfeln der Berge. Wind kommt auf. Er kräuselt den See, streift über die Haut, säuselt unter dem Radhelm. "Wir müssen zurück ins Tal!" Dave tritt ein paar Mal in die Pedale und jagt wieder den Trail hinab, als wäre eine wild gewordene Herde Steinböcke hinter ihm her. Selbst jetzt, wo er mir ein paar seiner Tricks gezeigt hat, habe ich Probleme zu folgen. Aber der Gorilla in mir wird von Spitzkehre zu Spitzkehre mutiger. Der Weg lädt regelrecht dazu ein.
Bei dem Gespräch mit Darco erfuhr ich, dass seine Firma Allegra-Tourismus neben den Trails Mountainbike-Destinationen entwickelt. Deren Angebot umfasst den Transport von Bikern, Guides und spezielle Hotels. Bei den Projekten spricht man sich mit den Naturschützern ab. Darco nennt es das Dreieck von Natur, Weg und Biker. Bei der Route, die wir heute fahren, betrug die Projektzeit zwei Jahre, die Bauzeit wenige Wochen. Stolz erzählte er: "Wir haben jetzt Nachbegehungen mit den Umweltorganisationen gemacht, und die sind begeistert. Sie haben gesehen, dass man mit dieser Art der Wegesanierung das Gelände schützt. Niemand will Furchen in der Landschaft, die sonst entstehen: Das will nicht die Region, auch nicht der Biker."
Nach 30 Minuten schlagen die Kronen des Bergwaldes wieder über unseren Köpfen zusammen. Das Licht der Sonne blinkt durchs Geäst, malt Muster auf die Hänge. Zusammen mit Dave holpere ich über das rundgeschliffene Kopfsteinpflaster des Römerwegs - das nächste Fähnchen in der Karte. Das letzte gilt dem Morteratschgletscher. "Wahnsinn!", ruft Dave. "Vor ein paar Wochen konnte man von hier aus noch schön die Gletscherzunge fotografieren. Wie schnell die Bäume wachsen." Wir fahren zwei Kehren die Passstrasse hinauf, halten an einem Aussichtspunkt. Vor uns erhebt sich eine Wand aus Schnee und Eis, modelliert vom Licht der tiefstehenden Sonne.
Dave und ich rollen zurück zu unserem Startpunkt in Pontresina. In den letzten Stunden habe ich mich so sicher gefühlt, dass bereits die nächsten Bike-Touren in meinem Kopf herumspuken. Mir fällt eine Szene von heute Morgen ein. Während des Gesprächs mit Darco Cazin platzt ein Mann mittleren Alters mit einer Neuigkeit herein. Ich schnappe Worte auf wie "Budget", "Bike-Schwierigkeitskurs" und "Flowtrail". Darco klatscht in die Hände und lacht. Klingt nach einem neuen Auftrag für Allegra-Tourismus im Engadin.