Am 29. Mai 1993 töteten Rechtsextreme fünf Menschen in Solingen. Mehmet Daimagüler war damals in der FDP aktiv, heute vertritt er Opfer der NSU-Anschläge.
Am Dienstag jährt sich der rechtsextreme Brandanschlag von Solingen zum 25. Mal. Dabei starben am 29. Mai 1993 fünf türkischstämmige Bürger. Solingen gilt als einer der schwersten rassistischen Anschläge in der Geschichte der Bundesrepulik. Mehmet Daimagüler, 50, ist Jurist und hat im Münchner Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) die Angehörigen zweier Opfer vertreten. Der gebürtige Siegener mit türkischen Wurzeln studierte in Harvard Public Administration und war in den der 1990er Jahren Mitglied im Bundesvorstand der FDP. 2017 veröffentlichte er unter dem Titel "Empörung reicht nicht" sein Plädoyer im NSU-Prozess. Daimagüler kritisiert, dass sich in Deutschland im Umgang mit rassistischem Terror in den vergangenen 25 Jahren kaum etwas verändert habe.
SZ: Im Jahr 1993 waren Sie 25 Jahre alt. Wie haben Sie den Brandanschlag von Solingen erlebt?Mehmet Daimagüler: Das war der negative Höhepunkt einer Entwicklung seit der Wiedervereinigung. Am Abend des Mauerfalls saß ich in einem türkischen Schnellimbiss in Bonn und ich war total gerührt. Ich blickte in viele türkische Gesichter, denen Tränen in den Augen standen. Wenige Tage später sah ich im Fernsehen Leute, die im Trabi sitzen und einer sagte: Als Erstes müssen die ganzen Ausländer weg, weil wir selber die Jobs und Wohnungen brauchen. Das war für mich sehr verstörend.
Im Jahr der Anschläge arbeiteten Sie im Kieler Landtag als Büroleiter von Wolfgang Kubicki. Wie reagierten die Abgeordneten auf die Bilder aus Solingen?Mir fiel auf, dass es viel Verbalerotik gab. Alle fanden das furchtbar, aber ich sah keine konkreten Maßnahmen. Nichts folgte der Empörung, sie lief ins Leere. Es gab keine gesetzgeberischen Maßnahmen. Ich erinnere mich an diese furchtbare Aussage von Kanzler Helmut Kohl, er mache keinen Beerdigungstourismus und wolle nicht in die Türkei fahren. Dabei hätte doch eine Folge sein müssen, dass sich Kohl hinstellt und sagt: "Passt mal auf, liebe Landsleute, die Migranten gehören zu uns, sie haben zum Wohlstand dieses Landes beigetragen." Stattdessen wurden wir Migranten als Problem adressiert.
Unter den Tätern von Solingen war ein Arztsohn, dessen Eltern sich gegen Atomkraft engagierten. Nur zwei der vier Verurteilten stammten aus rechtsradikalen Milieus. Man hätte erkennen können, dass Rassismus ein Problem der gesamten Gesellschaft ist.Es gab Ansätze dazu. Ich bin damals zum ersten Mal auf einer Demonstration mit marschiert, es gab Lichterketten. Aber alles verpuffte in einem großen Nichts. Während wir gesellschaftlich einen Aufschrei hatten, hatte ich den Eindruck, dass die Welle der Ausländerfeindlichkeit politisch instrumentalisiert wurde. In Rostock-Lichtenhagen wurde die Überbelegung von Flüchtlingsheimen gefördert. Als es dann zu Ausschreitungen kam, reagierte der Staat kaum, oder zu spät. Anschließend hieß es, das demonstriert einmal mehr, dass das Asylrecht verschärft werden muss.
Solingen liegt in Nordrhein-Westfalen. Damals wurde deutlich, dass rassistischer Terror nicht auf Ostdeutschland beschränkt ist.Das liegt auf der Hand. Und auch, dass es nicht auf Leute aus sozial schwierigen Verhältnissen begrenzt ist. Schauen Sie sich den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) an. Uwe Böhnhardt war der Sohn eines Ingenieurs und einer Lehrerin, der Vater von Uwe Mundlos auch Akademiker und die Mutter von Beate Zschäpe Zahnärztin.
Sie hatten in Harvard studiert und waren drauf und dran, in der deutschen Politik Karriere zu machen. Später schrieben Sie Ihre Doktorarbeit in Jura und wurden Anwalt. Welche Konsequenzen hatte für Sie persönlich der Anschlag von Solingen?Der Effekt auf mich war eine noch stärkere Politisierung: Ich stellte mir die Frage: Hast du in diesem Land eine Zukunft? Die Antwort war: Nur dann, wenn die Dinge sich nicht zum Schlimmeren ändern. Dafür musst du dich engagieren. Ich habe dann die erste Partei türkischer Bürger in Deutschland gegründet, die Liberale Türkisch-Deutsche Vereinigung.
In Ihrem Buch über den NSU schreiben Sie von mindestens zwei Dutzend Unterstützern, die dem Terror-Trio geholfen haben. In Solingen ging man davon aus, dass drei der vier Täter den Entschluss zum Anschlag spontan getroffen haben. Halten Sie das für glaubwürdig?Anschläge entstehen nicht aus einer Laune heraus. Da wird über einen langen Zeitraum Hass gepredigt, der sich dann irgendwann entlädt. Damit meine ich nicht nur Nazis. Hasserfüllte Sprache kommt auch aus den Mündern von Politikern der bürgerlichen Mitte. Beim Politischen Aschermittwoch 2011 sagte Herr Seehofer, dass er bis zur letzten Patrone gegen die Einwanderung in die Sozialkassen kämpfen werde. Da lebten Böhnhardt und Mundlos noch. Man stelle sich vor, die saßen vor dem Fernseher. Ich finde, das ist eine gewalttätige, zu Hass verleitende Sprache.
Sie appellieren an die Verantwortung der politischen Mitte.Ja, schauen Sie sich die Art und Weise an, wie wir heute und Anfang der 90er Jahre über Flüchtlinge reden. Da wird ein Szenario heraufbeschworen, in dem Deutschlands Existenz auf dem Spiel steht, wegen des "Türken-" oder "Migrantenproblems". Man sieht daran: Es hat keine Zäsur gegeben. Die Dinge haben sich nicht geändert nach Solingen, Mölln, Lübeck und dem NSU. Die deutsche Politik hat nichts gelernt. Zumindest große Teile davon nicht. Wir haben weiterhin rassistische Morde.