8 abonnements et 2 abonnés
Article

Hat Italien überhaupt eine Chance?

Foto: Gazzetta.it

Stolze vier Weltmeistertitel weist Italiens Fußball-Nationalmannschaft vor. Der letzte allerdings ist zehn Jahre her. Viele werfen der Squadra Azzurra vor, sie sei zu alt und müsse jungen Talenten mehr Chancen einräumen. Stimmt das? Und hat der italienische Fußball eine Chance bei der Europameisterschaft 2016?

Zehn Jahre sind vergangen, seit Fabio Cannavaro den WM-Pokal in den Berliner Himmel streckte. Obwohl die Squadra Azzurra seinerzeit hochkarätig besetzt war, kam der Triumph für viele überraschend. Parallel wurde Italiens Vereinsfußball nämlich vom "Calciopoli"-Skandal erschüttert. 2006 war aufgeflogen, dass der damalige Juventus Turins Sportdirektor Luciano Moggi im großen Stil Spiele und Schiedsrichter manipuliert hatte. Der Rekordmeister musste zwei Meistertitel abgeben und absteigen, auch weitere Traditionsvereine wie der AC Mailand und Lazio Rom wurden hart bestraft.

Der Kern der italienischen Nationalmannschaft bestand aus Spielern der betroffenen Klubs, Stützen wie  Juves Torwart-Legende Gianluigi Buffon, Kapitän Fabio Cannavaro oder die beiden Mailänder Mittelfeldakteure Andrea Pirlo und Gennaro Gattuso standen vor einer ungewissen Zukunft. Die Spieler konnten die Krise aber im Kollektiv überwinden. Das sieht auch ihr damaliger Erfolgstrainer Marcello Lippi rückblickend so: "Ich denke, dass die Mannschaft bereits so gefestigt war, dass sie die Unruhe in positive Energie umwandeln konnte."

Viel Trubel, kaum Erfolge

Unruhen und Skandale gibt es im "Calcio" nach wie vor genug. Probleme wie Gewalt, schwindende Zuschauerzahlen und Rassismus sind in italienischen Stadien allgegenwärtig. Dennoch lief es seit 2006 für die Squadra Azzurra vor allem bei Weltmeisterschaften schlecht, in beiden darauffolgenden Turnieren blieb lediglich das Aus in der Vorrunde. Bessere Erinnerungen haben die Italiener seither dagegen an Europameisterschaften, wo man beide Male nur am späteren Turniersieger Spanien scheiterte. 2008 im Viertelfinale nach Elfmeterschießen, 2012 im Endspiel. Für die Tifosi aber immer noch zu wenig, in Italien zählen nur Titel. Dieses Selbstverständnis hat einst Juve-Legende Giampiero Boniperti auf den Punkt gebracht: "Gewinnen ist nicht alles, aber das Einzige, was zählt!“

Seit dem Berliner Finalsieg über Frankreich scheiterten mit Roberto Donadoni, Cesare Prandelli und Marcello Lippi, der für die WM 2010 aus seinem Ruhestand zurückgekehrt war, renommierte Trainer an dem Vorhaben, die stolzen Fans endlich wieder mit Silberware zu beglücken. Im August 2014 übernahm mit Antonio Conte, zuvor dreimal in Serie Meister mit Juventus Turin, das Traineramt bei der Squadra Azzurra. Der 46-Jährige führte die alte Dame nach Jahren der Erfolglosigkeit wieder zu nationaler Dominanz, impfte ihr die traditionell berüchtigte Gewinner-Mentalität ein. Mittelfeldstratege Andrea Pirlo gilt als einer der größten Bewunderer Contes.  In seiner Biografie hebt er vor allem dessen Leidenschaft und Akribie hervor:  "Selbst wenn wir gerade am Gewinnen waren, war es nicht unüblich, dass Wasserflaschen in der Halbzeitpause durch die Kabine flogen, wenn er nicht zufrieden war."  Und weiter: "Er ist detailversessen und wird zum Biest, wenn etwas nicht so läuft, wie er es möchte."

Der Feldherr Conte übernimmt 

Contes Temperament ist Fluch und Segen zugleich. Er gilt als stur, vielleicht auch ein wenig stolz. Nicht nur in der Spielerkabine geht Conte auf Konfrontationskurs, durch seine autoritäre Art ist er in seiner Trainerkarriere bereits mehrfach angeeckt. Mit einem großen Paukenschlag legte er Mitte 2014 sein Amt bei Juventus Turin nieder, zeigte sich erbost über Differenzen zwischen ihm und der Vereinsführung bezüglich der Kaderplanung. "Mit zehn Euro kann man nicht in einem Restaurant essen, das preislich bei 100 Euro liegt", polterte der 46-Jährige bei seinem Rücktritt. Er forderte mehr Geld für Verstärkungen, andernfalls sei Juventus nicht in der Lage, den Großklubs in der Champions League Paroli zu bieten. International blieb Contes Juventus hinter den Erwartungen zurück, kam nie über das Viertelfinale Königsklasse hinaus. Den Fehler suchte er aber nie bei sich selbst. Sein Nachfolger auf der Juventus-Trainerbank, Massimiliano Allegri, speiste kein Jahr später mit 10 Euro in einem Nobelrestaurant. Er zog in seiner Debütsaison ins Champions League-Finale ein und verlangte dem favorisierten FC Barcelona alles ab.

Von Differenzen geprägt war auch Contes bisherige Zeit bei der Squadra Azzurra, immer wieder rumorte es zwischen ihm und den Verantwortlichen des italienischen Fußballverbands. Trotzdem zeigte sich vor allem der nicht unumstrittene Verbandspräsident Carlo Tavecchio stets zufrieden mit der Arbeit seines Nationaltrainers. Conte wird seinen bis zur EM 2016 datierten Vertrag allerdings nicht verlängern, sondern zur neuen Spielzeit beim englischen Spitzenklub FC Chelsea anheuern. Wie schon 2006 steht der italienische Fußball also vor einer ungewissen Zukunft. Conte konnte in den fast zwei Jahren, in denen er nun im Amt ist, strukturell viel ändern, wird sein Werk aber - ähnlich wie bei Ex-Verein Juventus Turin - aufgrund eigener Ambitionen und Eitelkeiten unvollendet lassen.

Radikal testete Conte in Qualifikations- und Testspielen alles, was der italienische Fußball so hergibt. Über 60 Akteure streiften sich das legendäre azurblaue Trikot über, er konnte sich weder auf System, noch auf eine absehbare Kaderzusammensetzung festlegen. Dennoch gelang es dem 46-Jährigen, der zuvor blutleeren Mannschaft wieder Leben einzuhauchen. Conte ist ein Motivator und schafft es, seine Spieler wie Soldaten hinter sich zu vereinen. Allen voran Spielern, die er bereits bei Juventus Turin trainierte, wird hierbei eine wichtige Rolle zu teil. Sie sind sein verlängerter Arm auf dem Spielfeld und würden für ihren Trainer nach wie vor durch die Hölle gehen.

Es müssen wieder Spielertypen her 

Diese Mentalität war bereits 2006 der vielleicht wichtigste Faktor für den WM-Triumph. Neben Gentlemen wie Torwartlegende Gianluigi Buffon oder Andrea Pirlo waren es vor allem unangenehme Typen, Raubeine  wie Marco Materazzi oder Gennaro Gattuso, die ihre Mannschaft mit ihrer ruppigen und verrückten Art in entscheidenden Momenten wachrütteln konnten. Die Gentlemen in der Squadra Azzurra sind immer noch Gentlemen, doch endlich werden sie wieder durch Verrückte ergänzt. Spieler mit dieser Mentalität fehlten den Italienern in den vergangenen Jahren merklich.

Allen voran Leonardo Bonucci hat sich bei Juventus Turin zu einem echten Führungsspieler und einem der besten Verteidiger überhaupt entwickelt. Neben fußballerischer Qualitäten wie hervorragendem Aufbau- und Stellungsspiel überzeugt er vor allem durch diese positive Verrücktheit. Der 28-Jährige ist auf und abseits des Platzes ein Krieger, der Körper und Geist stets in den Dienst der Mannschaft stellt. Am einfachsten lässt sich Bonucci anhand einer Geschichte beschreiben, die sich 2012 vor einem Autohaus zugetragen hat:  Als der Nationalspieler das Geschäft verließ, bedrohte ihn ein maskierter Mann mit einer Pistole und forderte dessen Uhr. Bonucci schlug ihn daraufhin völlig unbeeindruckt nieder. Nachdem sich seine Frau mit dem wenige Monate alten Sohn im Auto eingeschlossen hatte, nahm der Juve-Star die Verfolgung des Täters und seines Komplizen auf. Nach Angaben der „Gazzetta dello Sport“ rief ihm der bewaffnete Räuber dabei zu: „Bist du wahnsinnig? Ich erschieße dich!“

Als ähnlich kompromisslos gilt sein Vereins- und Verteidigerkollege Giorgio Chiellini.  Er und Bonucci harmonieren bereits seit Jahren prächtig miteinander. Verzichten muss Conte jedoch auf die zwei besten Fußballer, die Italien derzeit zu bieten hat. Juves Mittelfeldregisseur Claudio Marchisio riss sich vor der Saison das Kreuzband, Jungstar Marco Verratti  von Paris St. Germain musste sich ebenfalls abmelden.  Ohne den beiden fehlt es der Squadra Azzurra an Kreativität, Dynamik und Spielwitz. Da Contes Lieblingsschüler Andrea Pirlo seine große Karriere in New York ausklingen lässt und damit nicht mehr auf allerhöchstem Niveau kickt, kommt der 37-Jährige ebenfalls nicht mehr in Frage. Die Lücke schließen soll Daniele De Rossi vom AS Rom, der zuletzt eine aufsteigende Formkurve zu verzeichnen hatte und nach wie vor absoluter Führungsspieler ist. Ein römischer Gladiator, der nicht nur so rustikal spielt wie er aussieht, sondern auch fußballerisch die feine Klinge beherrscht. Seine präzisen Diagonalbälle sollen vor allem ein schnelles Umschaltspiel über Außen ermöglichen, wo mit Antonio Candreva von Lazio Rom oder Matteo Darmian von Manchester United hohe spielerische sowie läuferische Qualität vorhanden sind.

Wer soll die Tore schießen?

Die Squadra Azzurra, berühmt berüchtigt für tadellose Defensivarbeit und "Catenaccio", hat ihre Schwächen eindeutig im Angriff. Wo sich früher Ausnahmekönner wie Totti, Del Piero, Vieri, Baggio oder Inzaghi tummelten, fehlen heute die ganz großen Namen. Hoffnungsträger um in diese großen Fußstapfen zu treten war einst Mario Balotelli. Seine oberkörperfreie Pose, nachdem er Deutschland im Halbfinale der EM 2012 im Alleingang ausschaltete, ging um die Welt. Heute ist es fußballerisch ruhig um das einstige Supertalent geworden, auf Titelseiten schafft es Balotelli meistens nur noch durch Eskapaden. "Ich kann es kaum erwarten", hatte Balotelli nach der Auslosung, die Italien mit Belgien, Irland und Schweden in Gruppe E zusammenführt, via Twitter mitgeteilt. Nationaltrainer Conte hatte für diese Aussage nur Spott übrig und konterte: "Er kann was kaum erwarten? Die EM im Fernsehen zu sehen oder sie zu spielen?" In den letzten Länderspielen des Jahres 2015 setzte Conte auf ein Sturmduo bestehend aus  Graziano Pellé, in Diensten des englischen Durchschnittsklubs FC Southampton, und den eingebürgerten Italo-Brasilianer Éder, seit Anfang 2016 immerhin bei Inter Mailand.

Fazit: Die Squadra Azzurra wird es bei der Europameisterschaft nicht einfach haben. Antonio Conte hat den schwierigsten Job südlich der Alpen übernommen und ihn auf seine typische Art und Weise ausgeführt. Die Mannschaft scheint endlich wieder über die nötige Mentalität zu verfügen, um bei Turnieren in den entscheidenden Momenten bestehen zu können. Bereits 2006 haben die Italiener bewiesen, dass sie am stärksten sind, wenn keiner mehr mit ihnen rechnet. Damit die Squadra Azzurra bei der EM in Frankreich aber vom Titel träumen kann, muss Antonio Conte in seinen Abschiedsspielen als Nationaltrainer endlich eine Stammelf finden, die sich im Laufe des Turniers zu einer eingeschworenen Einheit entwickelt. Diese wird aller Voraussicht nach nicht aus den elf besten Einzelspielern, sondern aus den für das kollektive 3-5-2-System geeignetsten Akteuren bestehen.

Thomas Hürner, Augusta

traduzione di Agata Giuffrida e Elisa Trovato, Passavia

Rétablir l'original