Mr. Amis, Ihr neuer Roman spielt im Konzentrationslager Auschwitz. Ist es für Sie ein Unterschied, über das Buch zu Hause in New York oder hier in Berlin zu sprechen?
Sie meinen hier, am Tatort? Ich bin gerade erst eingetroffen, und es ist vielleicht noch zu früh, um die Frage zu beantworten, aber ich glaube schon, dass es sich hier anders anfühlt, über den Roman zu sprechen. Vorhin habe ich ein Interview im Holocaust-Mahnmal gegeben, und ich muss sagen, dass mich das Denkmal selbst kaltgelassen hat, obwohl die Ausstellungsstücke in dem Informationszentrum sehr berührend sind. Es ist schwierig, irgendeine Schwingung zu verspüren, wenn einem das gewaltige Ausmass auf diese Weise vor Augen geführt wird. Ich fühlte mich beim Anblick eher an Stalins Satz erinnert, dass es sich beim Tod eines einzelnen Menschen um eine Tragödie, beim Tod von Millionen aber um eine Statistik handele. Es ist sehr viel leichter, das Ausmass des Verbrechens am Schicksal eines einzelnen Menschen zu ermessen.
Etwas, das Sie am Beispiel des stalinistischen Terrors bereits in Ihrem 2002 erschienenen Essay "Koba der Schreckliche" und dem 2008 veröffentlichten Roman "Haus der Begegnungen" überprüft haben, dessen Erzähler sich angesichts der Tatsachen einer "formlosen Ansammlung von Erniedrigungen und Schrecken" gegenübersieht. Wie ist es Ihnen gelungen, dem Holocaust eine literarische Form zu verleihen?
Es wird manchmal behauptet, dass Holocaust-Romane oder Romane, die in Auschwitz spielen, entweder nicht vom Holocaust und von Auschwitz handelten oder keine Romane seien. Wenn dem so ist, geht es in "Interessengebiet" vielleicht nicht um Auschwitz, aber es handelt sich mit Sicherheit um einen Roman. Weil ich Anfang der Neunziger mit "Pfeil der Zeit" bereits einen Holocaust-Roman geschrieben hatte, war ich vom Stoff diesmal weniger überwältigt, aber die Anforderungen beim Schreiben waren ebenso hoch wie bei jedem anderen Roman. Es ging darum, das Thema zu bewältigen, nicht darum, sich vom Thema überwältigen zu lassen.
In "Koba der Schreckliche", wo das Augenmerk nicht zuletzt auch auf dem Flirt westlicher Intellektueller mit dem Kommunismus liegt, schreiben Sie, es sei immer möglich gewesen, über die Sowjetunion Witze zu reissen - was sich im Falle Nazideutschlands verbiete. Aber macht Ihre grotesk-komische Darstellung des Lagerkommandanten Doll, eines der Ich-Erzähler im Roman, nicht auch den Holocaust zu einer "Katastrophe des Lachens"?
Ich würde weniger von Komik als von Satire reden, wobei es sich im Vergleich mit der frühlingshaften Komödie um ein eher winterliches Genre handelt. Satire ist bitterster Spott, und die satirischste Erzählerstimme des Romans ist deshalb die des Lagerkommandanten, weil er das Gedankengut der Nazis repräsentiert. Ich hätte mich aber nicht zur Satire hinreissen lassen, wenn diesem Gedankengut und sogar seiner Ausführung nicht etwas Absurdes unterläge. Lenin und Stalin bezogen sich immerhin auf Marx, während sich Hitler auf Spinner und Pamphletisten wie Arthur de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain berief. Nichts davon hat das intellektuelle Gewicht, das man sogar im verzerrten Marxismus der Bolschewiken spürt, die wenigstens auf ein ernsthaftes intellektuelles Abenteuer reagierten. Im Nazi-Universum gab es stattdessen nur zwölftklassigen, jeglichen Realitätsbezugs entbehrenden Müll, der sich der Satire geradezu aufdrängt. Der satirische Impuls in mir ist seit je sehr stark, aus Hochachtung vor einem Thema würde ich ihn nie zurückhalten. Ich hasse den rhapsodischen sepulkralen Ton, der die Holocaust-Literatur auszeichnet, die mich am wenigsten überzeugt, und es gibt einige berühmte Kommentatoren des Holocaust, die diesen Ton anschlagen und auf jeder Seite mein Misstrauen wecken.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Lieber nicht, aber selbst in Primo Levis Büchern findet man eine Menge unterdrückte Ironie und Spott. "Die Atempause", eine Art Begleitband von "Ist das ein Mensch?", Levis Buch über die Zeit in Auschwitz, ist eine Explosion der überschwänglichsten Formen der humoristischen Wahrnehmung. Die ersten fünfzehn Seiten sind unglaublich düster, aber sobald er aus dem Konzentrationslager ins Leben zurückkehrt, stellt sich alles Menschliche wieder ein, und Humor ist Teil davon.
Levi schrieb mit der Autorität seiner persönlichen Erfahrung, und auch der in Budapest geborene George Tabori konnte "Auschwitz" nur aufgrund seiner eigenen Biografie als den "kürzesten deutschen Witz" bezeichnen. Was ausser der Lektüre der im Nachwort Ihres Romans genannten Bücher haben Sie dieser Autorität entgegenzusetzen?
Während der Arbeit an "Interessengebiet" spielte dies keine Rolle, aber im Rückblick scheint es mir, dass ich nicht zuletzt dadurch ermutigt wurde, dass ich seit zwanzig Jahren mit einer Frau verheiratet bin, die mütterlicherseits Jüdin ist und deren Familie im Holocaust gelitten hat - dass es sich bei dieser Familie auch um meine Familie handelt, weil ich mit dieser Frau zwei Töchter habe. Dies hat vielleicht zu einem grösseren Bewusstsein für die Verantwortlichkeiten und Gefahren im Umgang mit diesem Stoff beigetragen, aber das zentrale Problem beim Schreiben hat immer mit einer Form des Anstands zu tun, bei der es sich jedoch um eine literarische Angelegenheit handelt, nicht um eine Frage der Höflichkeit oder des guten Benehmens - um das Problem, den angemessenen Ausdruck für das zu finden, was man beschreibt. Die Idee, dass man über den Holocaust keine Romane verfassen dürfe, ist in philosophischer Hinsicht ein totaler Blindgänger. In welchem Augenblick wird etwas derart schwerwiegend und ernst, dass man nicht mehr darüber schreiben darf? Was, wenn es sich abermals ereignen würde? Dürfte man dann darüber schreiben? Dürfte man nicht über den Nahen Osten schreiben, über Syrien oder den Irak, wenn die Dinge dort vollkommen aus dem Ruder liefen?
Über alles zu schreiben, ist eine Sache, alles zu veröffentlichen offenbar eine andere. "Interessengebiet" wurde von Ihren langjährigen deutschen und französischen Verlagen abgelehnt, und auch "The Second Plane", Ihr 2008 erschienener Band mit Essays über den 11. September und den islamischen Fundamentalismus, wurde nicht ins Deutsche übersetzt. Wie nehmen Sie die Probleme wahr, die Teile der Kritik schon immer mit Ihrem Werk hatten und die sich an der kontroversen Rezeption Ihres jüngsten Romans erneut kristallisieren?
Mein deutscher Verlag hat den Roman vermutlich aus anderen als den vorgeschobenen Gründen abgelehnt, und der französische Verlag hat gar keine Gründe genannt. Ich halte es mit Saul Bellow, der eine Figur seiner Novelle "Bellarosa Connection" sagen lässt, dass die Deutschen den Juden zuerst den Holocaust angetan und sie dann dazu verurteilt hätten, ein Leben lang darüber zu reden. Es ist wie in Coleridges Ballade vom "Alten Seemann", der dazu verdammt ist, seine Geschichte zu erzählen. Was die Kritiker betrifft, so höre ich manchmal, meine Romane seien "zu hart an der Schmerzgrenze".
Schreiben Sie absichtlich hart an dieser Grenze?
Nein, man kann nicht mit der Absicht schreiben, einen bestimmten Effekt zu erzielen. Das unterscheidet die Literatur von der Pornografie, der Propaganda und der Werbung.
Dennoch erzielen Sie einen Effekt, indem Sie einigen Figuren lächerliche Namen wie "Trudel Zulz" oder "Suitberg Seedig" geben. Dies ist auch deshalb signifikant, weil Sie in "Interessengebiet" Hitler auf ähnliche Art den Namen verweigern wie in "Haus der Begegnungen" Stalin.
Ich konnte nicht glauben, dass jemand Suitbert heissen kann, aber ich bin etwas besorgt, wenn Sie sagen, dass der Name in Ihren Ohren lächerlich klingt. Ich habe einfach eine Liste deutscher Vornamen und eine Liste deutscher Nachnamen erstellt und diese dann kombiniert. Die Literaturagentin Pat Kavanagh sagte einmal, ein guter Name bestehe aus einem ungewöhnlichen und einem gewöhnlichen Element. Man wolle nicht John Smith heissen, aber auch nicht Engelbert Humperdinck. Diesen Rat habe ich bei der Namensgebung meiner Figuren stets beherzigt, und das, worum es in Wirklichkeit geht, ist die Ausdrucksstärke eines Namens. Es würde mich zu Tode langweilen, über eine Figur namens Tom Metcalf zu schreiben, aber andererseits werfe ich auch einen Roman in die Ecke, wenn eine Figur wie irgendwo bei Thomas Pynchon nach einem Tampon-Hersteller benannt ist.
"And what of Szmul, what of the Sonders? Ach, I can hardly bring myself to set it down", so Doll im Originaltext, in dem Sie nicht nur auf die Expressivität deutscher Namen setzen, sondern auch auf die Kraft einzelner deutscher Wörter: "Using thick leather belts they drag the pieces from the shower room to the Leichenkeller." "Ach" klingt komisch, "Leichenkeller", wohin Szmul, Ihre dem Sonderkommando zugehörige Erzählerfigur, die Toten der Gaskammer bringt, nicht. Nach welchen Kriterien haben Sie die im Text verwendeten deutschen Wörter ausgewählt?
Diese Entscheidung habe ich erst sehr spät getroffen, aber wenn an dem Gedanken, dass sich der Holocaust nur in der deutschen Sprache ereignen konnte, auch nur ein Funken Wahrheit ist, musste die deutsche Sprache Eingang in meinen Roman finden. Ich habe mir ein riesiges, schwer zu handhabendes deutsches Wörterbuch besorgt, um mich an dieser seltsamen Sprache zu ergötzen. Deutsch ist eine auf hässliche Weise schöne Sprache, eine faszinierende, bizarre Sprache, die etwas Kindliches und dann wieder etwas zutiefst Poetisches und Künstlerisches hat.
Etwas Märchenhaftes, wenn man Szmul hört, der von einem König erzählt, der seinem Zauberer befahl, einen "magischen Spiegel" zu erschaffen, der nicht das Spiegelbild, sondern die Seele des Betrachters zeige. Was haben Sie bei der Arbeit an Ihrem Roman in diesem Spiegel gesehen - dem Spiegel, der laut Szmul das Konzentrationslager selbst ist?
Szmul hat mir anfangs Kopfzerbrechen gemacht, weil er im Gegensatz zu Doll und dem SS-Offizier Golo Thomsen, den beiden anderen Ich-Erzählern, ein Opfer ist. Aber schliesslich fand ich es nicht sonderlich unnatürlich, seinen Part zu schreiben. Thomsen mit seinem Zynismus und einem mehr oder weniger logischen Denken hätte in jedem meiner anderen Romane auftreten können. Die Figur, die mich am meisten gezwungen hat, in die Abgründe meiner Seele zu blicken, war Lagerkommandant Doll. Ich sagte mir manchmal: "Was er tut, ist wirklich schlimm, aber ich frage mich, wie ich es noch schlimmer machen kann." Im Zustand der Trance habe ich dann meinen eigenen Geist nach Niedertracht und Boshaftigkeit erforscht und bin meist nach kurzer Zeit fündig geworden. Das war wie der Blick in einen magischen Spiegel, der mir zeigt, wozu ich fähig wäre.
"Findest Du auch, dass wir sie noch schlechter gar nicht behandeln könnten?", sagt Thomsen in einem Gespräch über die Lagerinsassen, das in dieser Hinsicht den Blick in Ihre Seele offenbart: "Ach, hör auf", so Thomsens Gegenüber. "Wir fressen sie nicht."
Sebastian Haffner beschreibt einmal, wie man sich unter der Herrschaft eines totalitären Regimes aller feineren Gefühle entledigt und dies fast als Befreiung empfindet, weil sie in der Realität, der man ausgesetzt ist, nicht den geringsten Nutzen haben. Der Mensch ist zu allem fähig, und wie Dostojewski sagte, ist dies vielleicht das Bemerkenswerteste an ihm. Thomsen und sein Freund sind zu Beginn des Romans vom Zynismus zerfressen - etwas, das auch mir im Laufe meiner Karriere immer wieder vorgeworfen wurde. Aber welcher Zyniker würde den Zynismus anderer anklagen?
Inwiefern verändert ein Roman wie "Interessengebiet" die Art, wie wir uns erinnern oder über die Vergangenheit nachdenken? Was trägt Ihr Roman zum Diskurs über den Holocaust bei?
Die Barbarei ist nicht etwas, dem die Menschheit je entwachsen wird, und immer wenn man glaubt, etwas wende sich zum Besseren, holt einen die menschliche Schlechtigkeit wieder ein. Ich vermeide die Rede vom "Bösen", da diesem Wort zu viel theologisches Gewicht anhängt, aber wenn wir uns die Terrororganisation Islamischer Staat ansehen, müssen wir zugeben, dass die Barbarei jeden unserer Schritte begleitet. Was den Holocaust anbelangt, so werden wir ihn nie begreifen, weil er so eng mit dem Wahnsinn verknüpft ist, aber wenn mein Roman auch nur den Bruchteil eines Millimeters dazu beiträgt, dass sich diese Art von Katastrophe nie wiederholen wird, hat er einen Beitrag geleistet. Alle, die über den Holocaust schreiben, ob Historiker, Philosophen, Dichter oder Romanciers, gleichen dem Team, das nach einem Flugzeugabsturz ausschwärmt, und ihr Bericht dient nicht nur der Erklärung, sondern immer auch dem Ziel, zu verhindern, dass die gleiche Verkettung von Umständen abermals zur Katastrophe führt. Diese Arbeit ist meines Erachtens eine heilige Pflicht.
"Über Hitler mach dir mal keine Gedanken", erinnern Sie sich in Ihren Memoiren an die Antwort Ihrer Mutter, die Sie im Alter von zehn Jahren fragten, wer Hitler gewesen sei. "Du hast blondes Haar und blaue Augen. Dich hätte Hitler geliebt."
Ja, das war ihre Antwort, und ich bin mir sicher, dass mein anhaltendes Interesse am Holocaust seinen Ursprung auch in diesen Sätzen hat. In der Erleichterung und Freude, die ich als Kind darüber empfand, dass Hitler mich geliebt hätte. Im Schuldgefühl, das daraus erwächst.
Martin Amis liest heute Abend im Zürcher Kaufleuten aus seinem neuen Roman.