Die Mutter im Rampenlicht, die Tochter immer hinter den Kulissen: Das Drama scheint programmiert. Aber die Irin Anne Enright zeigt, dass es auch anders geht: Ihr Roman «Die Schauspielerin» ist eine stille, einfühlsame Beziehungsstudie.
Die 1986 verstorbene Katherine O'Dell war die vielleicht berühmteste irische Schauspielerin ihrer Zeit. Sie war ein Theater- und Filmstar, eine Ikone. Als Tochter rastloser Wanderschauspieler wurde sie bereits als Kind von der Bühne erwählt, mit neunzehn feierte sie ihr Debüt im Londoner West End und am Broadway und wurde von Hollywood entdeckt. Orson Welles schaute in ihrer Garderobe vorbei, Ivor Novello trank aus ihrem Schuh Champagner. Erst in New York färbte sie sich die Haare erstmals rot.
O'Dell war Romantikerin, Rebellin, eine Sympathisantin der IRA. Als Künstlerin, die wahlweise aus einem oder beiden Augen weinen konnte, ging es ihr um Ernsthaftigkeit, Mut und Selbstaufopferung. Später machte sie Werbung für irische Butter. Ihre von der Presse meist als grün beschriebenen Augen waren in Wahrheit haselnussbraun.
Sie schaffte es sogar, «ihren Blick zu maskieren», wie es in «Die Schauspielerin» heisst, dem hervorragenden neuen Roman der irischen Schriftstellerin Anne Enright, in dem die fiktive O'Dell die auratische Gestalt einer wahrhaftigen, im Licht einer vergangenen Ära erstrahlenden Legende annimmt. Als sie im Mai 1980 ins Central Mental Hospital eingeliefert wurde, nachdem sie auf den Filmproduzenten Boyd O'Neill geschossen hatte, ergötzte sich das Publikum an ihrem tragischen Sturz.
Abseits des Rampenlichts
«Die Leute fragen mich: ‹Wie war sie?›, und ich versuche zu verstehen, was genau sie damit meinen», so Enrights Ich-Erzählerin, die Schriftstellerin Norah FitzMaurice. «Wie war sie als normaler Mensch, wenn sie Pantoffeln trug und Marmeladentoast ass? Als Mutter, als Schauspielerin?» Mit achtundfünfzig Jahren, als sie selbst das Alter erreicht hat, in dem O'Dell verstarb, und im Begriff ist, «an ihr vorbei auf unerforschtes Gebiet» hinauszuschreiten, beginnt Norah, sich über das Leben ihrer Mutter und die eigene Existenz im Schatten des Rampenlichts Gewissheit zu verschaffen.
«Die Schauspielerin» ist nicht nur ein schillernder, vom Glanz und Elend der Titelheldin handelnder Künstlerroman, sondern auch das nicht minder faszinierende Selbstporträt der Erzählerin, die im Leben der Mutter eine tragende Nebenrolle spielte und sich auf ihrem Logenplatz am Bühnenrand zugleich «auserkoren» fühlte und «unendlich allein».
Das der Fiktion des Romans eingeschriebene Schwarz-Weiss-Foto aus dem Jahr 1963, das den Umschlag der englischen Originalausgabe von «Die Schauspielerin» schmückt und in Wirklichkeit die kleine, auf einem Hocker sitzende Carrie Fisher zeigt, die aus dem Hintergrund ihre im Scheinwerferlicht erstrahlende Mutter Debbie Reynolds beobachtet, illustriert nicht nur die besondere Beziehung, in der Enrights Hauptfiguren zueinander stehen. Das Bild, das die erwachsene Norah im Laufe ihrer Recherche betrachtet und mit ihren Erinnerungen koloriert, zeigt zudem die einzigartige, im Rückblick gebrochene Perspektive, aus der sie die Geschichte erzählt.
«Ich sah die Klebebandmarkierungen am Boden und die ungeschönte Rückseite der Dinge», so Enrights Erzählerin, als sie den im Foto festgehaltenen Moment mehr als fünfzig Jahre später heraufbeschwört, «und in meinen Augen war diese provisorische Wirklichkeit magischer als alles, was man aus der ersten Reihe erkannte.» Der vertrauliche Gestus der an ihren langjährigen Ehemann gerichteten Ich-Erzählung, mit der sich Norah dem voyeuristischen Verlangen der Öffentlichkeit konsequent entzieht, macht «Die Schauspielerin» abseits der glamourösen Bühnenhandlung zum intimen Kammerspiel einer glücklichen Ehe, die kein Maskenspiel und keine Verstellung kennt.
Verleugnete Herkunft
Wie war Katherine O'Dell? Weshalb hat sie Boyd O'Neill in den Fuss geschossen? Weshalb verlor sie den Verstand? Enrights Erzählerin umkreist diese Fragen in weiten assoziativen Bögen und verfängt sich dabei immer wieder in der eigenen Lebensfrage nach ihrem Vater, dessen Namen O'Dell vor der Tochter zeitlebens geheim gehalten hatte.
Norah rekonstruiert die verleugnete englische Herkunft ihrer Mutter, die publikumswirksame Inszenierung von O'Dells Image als «irischste Schauspielerin aller Zeiten». Sie offenbart die ganze Tragik von Ehrgeiz und Ruhm, in der auch die Tragik ihrer eigenen Kindheit liegt, und befreit schliesslich nicht nur ihre Mutter von der Last eines Mythos, sondern auch sich selbst.
«Katherine O'Dell glaubte, sie hätte den Massen etwas anzubieten, etwas wie Freude oder Schmerz», so Norah, die in «Die Schauspielerin» letztlich von einer bewegenden Aussöhnung mit ihrer Mutter und der eigenen Geschichte erzählt. «In späteren Jahren betrachtete sie sich dann als Opfergabe, in Brand gesteckt durch das grelle Licht der Aufmerksamkeit.» Aus den Flammen des zu Asche zerfallenden Glanzbildes lässt Enright einen nackten, schutzlosen Menschen hervortreten, dem schliesslich nicht nur Norahs Liebe gilt, sondern auch die des Lesers.
Anne Enright: Die Schauspielerin. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin-Verlag, München 2020. 304 S., Fr. 30.90.
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