Er ist alles, was man in Trumps Amerika nicht sein sollte: Sohn von Immigranten, homosexuell, widerständig gegenüber Kommerz und Karrieredenken. Aber Ocean Vuongs Stern steigt schnell - einzig kraft seines herausragenden literarischen Könnens.
Ocean Vuong, weil Sie in Ihrem Roman Roland Barthes erwähnen, möchte ich dessen Theorie vom "Tod des Autors" zitieren und im Gespräch versuchen, den Autor Ihres Textes auferstehen zu lassen. Wer ist das Ich, das in "Auf Erden sind wir kurz grandios" Ihre Geschichte erzählt?Ich liebe Barthes' "Tod des Autors", insbesondere die darin zum Ausdruck gebrachte Sehnsucht, sich beinahe schon im Moment des Schreibens vom Text zurückzuziehen. Aber ich bin hin- und hergerissen, was die Bedeutung dieses Gedankens für mich heisst. Sicherlich liegt er meiner Vorstellung zugrunde, dass jedes meiner beiden Bücher eine Art Marktplatz ist. In Amerika kennen wir eher die Main Street, einen Ort des Kommerzes, während es sich bei dem zentralen Platz, wie es ihn in vielen europäischen Städten gibt, um einen Ort des Zusammentreffens handelt. Im besten Fall ist ein Roman ein solcher Platz.
as. · Den ungewöhnlichen Vornamen hat ihm seine Mutter gegeben: Er sollte an das verbindende Element zwischen den USA und Vietnam erinnern, wo Ocean Vuong 1988 auf einer Reisfarm nahe Ho-Chi-Minh-Stadt geboren wurde. Nach der Übersiedelung in die USA war er der Erste in seiner Familie, der Schule und Universität besuchen konnte. Vuong studierte Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Lyrik und publizierte anschliessend in namhaften Zeitungen und Magazinen; Seine 2016 erschienene Gedichtsammlung "Night Sky With Exit Wounds" wurde mehrfach ausgezeichnet. 2019 publizierte er seinen Debütroman "On Earth We're Briefly Gorgeous" ("Auf Erden sind wir kurz grandios"). Unlängst wurde dem Autor die prestigereiche McArthur Fellowship zuerkannt.
Ja. Man erschafft und gestaltet ihn, aber dann tritt man als Autor zurück und überlässt ihn den Menschen. Das Schreiben meines Romans war eine grossartige Gelegenheit, sich vom Ich, wie es traditionell verwendet wird, abzuwenden. Von diesem schwarzen Loch, das sagt: "Dies ist mein Horror. Hier ist die Liste aller Verbrechen, die an mir begangen wurden. Dies ist meine Gelegenheit, die Dinge richtigzustellen." Dem wollte ich widerstehen. Ich wollte nicht im Zorn schreiben, weil Zorn nur polarisiert und reduziert. Ich wollte aus dem Gefühl heraus schreiben, das auf Zorn folgt - einem Gefühl der Fürsorge und der Zuwendung.
"Lass mich von vorn anfangen", so der erste Satz Ihres Romans. Handelt es sich also auch um eine Art Neuschreibung Ihres 2016 erschienenen Lyrikbands? Eines der Gedichte trägt sogar den gleichen Titel wie der Roman.Mit dieser Frage sind Sie vielen Interviewern voraus, was vielleicht daran liegt, dass Sie den Roman aus anderer Perspektive lesen als viele amerikanische Leser. Dem amerikanischen Impuls, ständig etwas Neues zu machen, wollte ich unbedingt widerstehen. Als Lyriker schreibt man in gewisser Weise nur, um seinesgleichen und seinen Lehrern zu gefallen, und wenn einem das gelingt, ist es schon gut.
"Einwanderer zu sein, hat mich vieles gelehrt. So verwirrend es war, in einem fremden Land aufzuwachsen, so voller Wunder war es doch zugleich."
Ihr Lyrikband "Night Sky With Exit Wounds" wurde allerdings auch mit diversen Preisen ausgezeichnet.Du hast Glück, wenn das geschieht, aber genau dann wirst du auch mit der kapitalistischen Realität konfrontiert. Lektoren und Freunde sagen: "Du hast über Immigration, die Gewalt in Amerika und über Queerness geschrieben. Was jetzt?" Sie erwarten, dass ich nun über den Mars schreibe. Du hast also ein Leben lang Zeit gehabt, ein erstes Buch zu schreiben, und dann sollst du innerhalb von drei oder fünf Jahren etwas vollkommen anderes abliefern. So funktioniert die kapitalistische Fliessbandproduktion. Es herrscht ein Druck, sich ständig neu zu erfinden.
Einem Druck, dem Sie mit dem Schreiben Ihres Romans auch nachgegeben haben, weil Romane per se marktgängiger sind als Gedichte.Ja, aber ich fand es dennoch albern, die Fragen, die man sich ein Leben lang gestellt hat, hinter sich zu lassen. Die 85 Seiten meines Gedichtbandes waren nur der Anfang meiner Antwort auf Fragen, die letztlich unerschöpflich sind. Um noch einmal neu anzufangen, musste ich mich einer Herausforderung stellen, und dabei habe ich mich sehr von der Zen-Philosophie inspirieren lassen, insbesondere von dem Zen-Meister Shunryu Suzuki.
Dessen Buch "Zen-Geist - Anfänger-Geist" ein Klassiker ist.Ja, ich liebe die Mentalität des "weissen Gürtels", um einen Begriff aus dem Kampfsport zu verwenden. Suzuki sagt, auch wenn man ein Experte sei, solle man sich den Anfänger-Geist bewahren. Ich las sein Buch, als ich über mein nächstes Projekt nachdachte, und sagte mir: "Ja, ich will eine neue Welt betreten. Ich will abermals Einwanderer sein." Die meisten von uns wollen diese Erfahrungen hinter sich lassen, aber Einwanderer zu sein, hat mich vieles gelehrt. So verwirrend es war, in einem fremden Land aufzuwachsen, so voller Wunder war es doch zugleich.
"Meine Generation war die letzte, die draussen spielte. Die letzte Generation, die eine Kindheit ohne iPhone verbrachte."
Konnte die Realität die Erwartungen einlösen, die sich Ihre Familie 1990 bei der Einwanderung in die USA gemacht hatte?Als Erstes wird einem klar, dass Amerika eine Bühne ist, und eines der Schlüsselelemente, um auf dieser Bühne zu überleben, ist Performance. Du musst dich wie ein Amerikaner aufführen, du musst ihn spielen. Aus dem queeren Blickwinkel hatte ich immer das Gefühl, in Amerika zu leben, heisst, in Drag zu leben. Du musst Erwartungen erfüllen, den Fortschrittsglauben teilen, was aufreibend ist. Die Fetischisierung der Produktivität hat dazu geführt, dass sich Amerikaner, insbesondere Menschen, die in dieses Land eingewandert sind, in der Arbeit zerstören. Egal, ob sie in den Kohlegruben, Fabriken oder wie Little Dogs Mutter in einem Nagelstudio arbeiten.
Wo sie nach Jahren der Arbeit kaum mehr als zerschundene Hände aufweisen kann.Wie kann man behaupten, es handele sich um das "beste Land der Welt", wenn um einen herum alles zerfällt? Die Häuser sind leer geräumt, deine Freunde sterben. Ich schreibe im Roman nicht explizit darüber, aber vieles darin entstammt der amerikanischen Imagination nach dem 11. September 2001, als unsere Kindheit über Nacht endete. Meine Generation war die letzte, die draussen spielte. Die letzte Generation, die eine Kindheit ohne iPhone verbrachte.
Freiheit, heisst es an einer Stelle Ihres Romans, sei "nur der Abstand zwischen dem Raubtier und seiner Beute". Ist Freiheit tatsächlich nichts als ein Mythos, der die Menschen zerfleischt, die an ihn glauben?Ich komme auf Roland Barthes zurück, der in "Mythen des Alltags" über den nationalen Mythos und seine Propaganda spricht. Für Amerika symbolisiert der Soldat, der neben der Flagge steht, die Freiheit. Freiheit ist das Haus mit dem weissen Lattenzaun, die Üppigkeit endlosen Weidelandes. Für einen Schriftsteller besteht die Aufgabe darin, diesen Mythen etwas entgegenzusetzen, die oft von Systemen gekapert werden - sei es vom Kapitalismus oder im Krieg. In Amerika ist Freiheit ein abstraktes Ideal, unerreichbar. Mit "Make America great again" verhält es sich ähnlich. Wann war Amerika jemals "grossartig"? Sobald man diese Anschlussfrage stellt, bricht das Gespräch in sich zusammen. Daran erkennt man auch den Unterschied zwischen Erinnerung und Nostalgie. Nostalgie stellt sich als Erinnerung zur Schau, erinnert sich jedoch nicht. Sie glaubt lediglich, dass sie erinnert. Das Gleiche hat es auch mit der Fassade der Freiheit auf sich.
Etwa mit der im Roman erwähnten Freiheit, zwischen Coca-Cola und Sprite wählen zu können, um irgendwann festzustellen, dass beides von derselben Firma produziert wird.Genau. Ich glaube, in modernen Zeiten ist Freiheit niemals rein. Wie kann ich behaupten, frei zu sein, wenn die Steuern, die ich auf das Geld zahle, das ich mit meinem Buch verdiene, in die Produktion von Waffen fliessen, die afghanische Kinder töten? Ich kann innerhalb eines Käfigs frei sein und schreiben, was ich will, aber am Ende wird das, was ich schreibe und verkaufe, in Tod umgeformt.
"In Trump sehen wir die bodenlose Leere, die mit der weissen Maskulinität einhergeht."
Immerhin erlebt Ihr Protagonist Little Dog Augenblicke der Freiheit, als er sich in Trevor verliebt, den Sohn eines Redneck.Ja. Trevor hat mich als Figur interessiert, weil ich mich fragte, was mit einem weissen amerikanischen Jungen geschieht, der das Milieu, dem er entstammt, zurückweist. Welchen Preis zahlt er dafür? Dabei handelt es sich um eine Frage, die sich in Amerika viele Männer stellen, die im Milieu einer toxischen Maskulinität aufgewachsen sind. Wir alle wollen irgendeinem Stamm angehören, und weil die amerikanische Nation so gross ist, ist der Tribalismus dort sehr stark ausgeprägt. Man versammelt sich unter einem Banner, egal, ob es sich um das des politisch linken oder rechten Flügels handelt, um das der Veganer oder der Hundebesitzer. Aber was geschieht, wenn jemand die ihm zugeschriebene Rolle zurückweist? Jemand, der wie Trevor aus dem Salz der Erde hervorgegangen ist, aus dem Rückgrat der amerikanischen Mythologie, der armen weissen Arbeiterschicht der Farmer, die das Land ernähren?
Sehen Sie auch Donald Trump als Opfer einer "toxischen Maskulinität"?Die Wunde, die ich an ihm ausmache, sehe ich in vielen amerikanischen Männern und vielleicht überhaupt in Männern westlicher Traditionen. In seinem Buch "Reifes Leben" beschreibt der Franziskanerpater und Philosoph Richard Rohr die Verfasstheit amerikanischer Männer als Vater-Hunger. Als einen Hunger nach Traditionen und Riten, die unseren Platz in der Welt bestätigen, unsere Maskulinität. An dem männlichen Ort, der nichts mit Macht oder Destruktivität zu tun hätte, herrscht eine grosse Leere. Dieser Ort ist so unamerikanisch, dass viele amerikanische Männer ein überlebensgrosses Selbstbild zur Schau stellen. Es soll das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit heilen, des "Nicht-Manns-genug-Sein". In Trump sehen wir die bodenlose Leere, die mit der weissen Maskulinität einhergeht.
"Amerikas Landbevölkerung befindet sich in einem derart schlechten Zustand, dass unter den Farmern eine Selbstmordkrise ausgebrochen ist."
Was sagt Ihnen als Lyriker die Sprache dieser Maskulinität?Es handelt sich um die Sprache der Macht, die ohne Fragen auskommt. Wenn man etwa den Zug von Hartford, Connecticut, nach New York nimmt, erkennt man, wie sehr Amerika in Schwierigkeiten steckt. Die Fabriken an der Bahnstrecke sind zerstört, die Felder sind leer, oder die Ernte ist vertrocknet. Das Leben der Menschen ist zerbrochen. In einer solchen Situation ist es äusserst verführerisch, wenn sich jemand mit dem Mythos von Macht und Reichtum aus dem Schutt der amerikanischen Realität erhebt. Ein Showstar des Reality-TV, ein Milliardär, der sich selbst nicht infrage stellt. Man glaubt an ihn wie an einen Zauber. Ein solcher Populist kann ein Leuchtfeuer sein, aber ein Leuchtfeuer mit Verfallsdatum.
Könnte das schon auf 2020 lauten, wenn in den USA wieder gewählt wird?Die Wahl dürfte sehr interessant werden, weil viele der Farmer, die für Trump gestimmt haben, wegen Selbstmordgefährdung unter Beobachtung stehen. Früher fand man in den ländlichen Staaten Amerikas Plakatwände mit der Aufschrift: "Glaubst du an Gott? Rette dich selbst." Das war vor Trump. Jetzt steht auf den Plakatwänden: "Selbstmord-Hotline. Dein Leben zählt." Die amerikanische Landbevölkerung befindet sich in einem derart schlechten Zustand, dass unter den Farmern eine Selbstmordkrise ausgebrochen ist. Als Schriftsteller interessiert mich, was darauf folgt. Nicht das "fuck you", sondern das "und was jetzt?".