Mit "Kriegslicht", seinem jüngsten Roman, kehrt Michael Ondaatje ins England der Nachkriegszeit zurück, wo er selbst einen Teil seiner Jugend verbrachte. Mehrfache Entwurzelung machte ihn zum Kosmopoliten - und zu einem der faszinierendsten englischsprachigen Autoren der Gegenwart.
Michael Ondaatje, können Sie die Tonlandschaften beschreiben, die Sie für "Kriegslicht" geschaffen haben, Ihren neuen, im London der Nachkriegszeit spielenden Roman?Musik war für meine Arbeit schon immer von grosser Bedeutung. Aber ich bin keiner dieser Schriftsteller, die während des Schreibens Musik hören; dann klingt das Geschriebene nämlich viel besser, als es in Wirklichkeit ist. Es ist immer gut, die Arbeit in einem kalten, stillen Raum zu verrichten. Es gibt allerdings dieses Empfinden für eine Tonlandschaft, und bei früheren Arbeiten hatte ich immer den Eindruck, dass die Struktur eines dreiminütigen Jazz-Stücks eine gute Struktur für ein Buch abgibt. Man hat fünf oder sechs Musiker, von denen jeder sein Solo spielt, und am Ende des Buchs kommen sie in einem Chorus zusammen und spielen alle das Gleiche.
Bei einem Buch wie "Buddy Boldens Blues", Ihrem 1976 erschienenen Roman über den legendären Bandleader, bietet sich diese Struktur an. Aber was bedeutet sie für Romane, die kein musikalisches Thema haben?Es handelt sich natürlich um eine Vereinfachung, aber sie hilft einem, sich vorzustellen, wie man der eigenartigsten Stimme Zugang zur Story gewährt, ihren Monolog, ihren Song, bevor sie wieder verschwindet. Auf diese Weise besteht das Buch nicht nur aus der Stimme eines einzelnen, sondern mehrerer Menschen.
"In dem Alter, in dem ich jetzt bin, denke ich unweigerlich, dass es sich um das letzte Buch handeln könnte."
Eine musikalische Tempobezeichnung, die sich durch den neuen Roman zieht, ist das Gustav Mahler zugeschriebene "schwer". Wie transponieren Sie dieses in Literatur?Das "schwer" schwebt immer irgendwo am Rande, aber es hat auch mit dem Tempo zu tun, mit dem Orchester, das auch mal Stille zulassen muss, in der sich alles verändert. Das Problem mancher Schriftsteller ist, dass sie einen Roman beginnen, der dann die ganze Zeit das gleiche Tempo beibehält, den gleichen Klang, so dass man sich nach dreissig Seiten zu langweilen beginnt. Man muss beim Schreiben auch mal einen anderen Gang einlegen.
Mahler bezeichnet mit "schwer" zum Beispiel den "Abschied", das sechste "Lied von der Erde". Könnte es sich bei "Kriegslicht" um den Abschied eines alternden Schriftstellers handeln?Ich denke, diesen Aspekt gibt es. Zum Teil, weil ich beim Schreiben jedes Buchs das Gefühl habe, dass es das letzte sein könnte. Als ich "Handschrift" beendete, schien es mir, als handele es sich um meinen letzten Gedichtband. Und "Kriegslicht" fühlte sich wie der letzte Prosaband an. Ich habe das früher bereits gesagt und dann ein weiteres Buch geschrieben, aber in dem Alter, in dem ich jetzt bin, denke ich unweigerlich, dass es sich um das letzte Buch handeln könnte. Nicht dass ich mir dies wünschte, aber man gibt alles hinein, was man hat, weil es das letzte sein könnte.
ThD. · Der 1943 in Sri Lanka, dem damaligen Ceylon, geborene Michael Ondaatje ist einer der grossen Nomaden der Weltliteratur. Nach den in Colombo verbrachten Kindheitsjahren folgte er seiner Mutter 1954 nach England. Acht Jahre später übersiedelte er nach Kanada, wo er seine Erkundungen postkolonialer Unbehaustheit schreibend fortsetzte. "The Dainty Monsters", Ondaatjes erster Lyrikband, erschien 1967, "Die gesammelten Werke von Billy the Kid", die romanhafte Collage über die berühmte Wild-West-Legende, drei Jahre später. Die fragmentarische, von einer starken poetischen Kraft getragene Erzählweise ist zu Ondaatjes Markenzeichen geworden und zeichnet auch seinen 1992 mit dem Booker Prize prämierten Roman "Der englische Patient" aus. In "Kriegslicht", dem souveränen, Motive früherer Bücher aufgreifenden Alterswerk, das Ondaatje am Rande des Interviews als seinen "englischen Roman" bezeichnete, kehrt er ins London der Nachkriegszeit zurück und erzählt am Beispiel der von ihren Eltern verlassenen Geschwister Nathaniel und Rachel die Geschichte einer Spurensuche im eigenen Leben. In der dichten Atmosphäre einer geheimnisvollen, oft in Dunkelheit gehüllten Stadtkulisse inszeniert Ondaatje ein faszinierendes Spiel mit den Topoi des Coming-of-Age- und des Spionageromans.
Nicht wirklich, aber jetzt kann ich diese sehr eindeutige Verbindung sehen. Hinsichtlich der Verspieltheit und des Moments von Abenteuer, aber mit einem sehr viel dunkleren Hintergrund. In "Die gesammelten Werke von Billy the Kid" und "Buddy Boldens Blues", meinen ersten Büchern, bin ich geradewegs in die Erwachsenenwelt gesprungen, und als ich "Katzentisch" schrieb, war es ein Vergnügen, die Sicht eines Jungen einzunehmen. Was "Kriegslicht" betrifft, so wusste ich nur, dass das Buch mit den beiden Kindern anfangen sollte, und es wurde schnell zur Fortsetzung des Abenteuers aus "Katzentisch".
Wie verändert sich das Verhältnis zur eigenen Kindheit mit dem Alter?Eine sehr gute Frage, aber ich glaube, ich verfüge sogar heute noch nicht über genug Wissen, um sie zu beantworten. Ich habe Sri Lanka im Alter von elf Jahren verlassen - ein Abschied, ohne bestimmte Dinge dort zu klären. Als ich dann mit achtzehn Jahren England verliess und nach Kanada zog, war es das Gleiche: Ich hatte mir über die Jahre dort keine Klarheit verschafft. All diese Vergangenheiten, diese nomadischen Vergangenheiten, hatten zur Folge, dass ich zurückkehren und versuchen musste, herauszufinden, was sich ereignet hatte.
"Ich wurde in meinem Leben zweimal aus dem Fenster gestossen und musste auf meinen Füssen landen."
Gab es damals Dinge, die Sie einfach hinter sich lassen wollten?Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, was für viele Kinder eine traumatische Erfahrung ist, aber ich wurde auf gewisse Weise von der Tatsache gerettet, dass ich nicht in einer gewöhnlichen Kernfamilie aufwuchs. Ich befand mich in der Obhut von Onkeln, Tanten und so weiter, und diese Zeit ist mir alles andere als düster erschienen. Ich habe sie als eine Mischung aus Freude, Abenteuer und Verlassenheit in Erinnerung, und ich glaube, diese Aspekte lassen sich in "Katzentisch" ebenso ausmachen wie in diesem neuen Buch.
Stand die Stadt, in der Sie 1954 aus Sri Lanka eintrafen, noch im Schatten des Krieges und war "verwundet, sich ihrer selbst nicht sicher", wie Ihr Erzähler Nathaniel in "Kriegslicht" über London schreibt?Nicht so sehr, auch die Rationierungen gehören einer etwas früheren Zeit an. Der Krieg war weniger eine reale als eine fiktive Präsenz. In den Fünfzigern gab es einige Filme, die vom Krieg handelten. Aber ich war einer vollkommen anderen Erziehung ausgesetzt. In Sri Lanka hatte ich bereits unterschiedliche Schulen besucht, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, was England überhaupt war. Ich hatte zu der Zeit noch keinen einzigen englischen Roman gelesen, und als ich vier Tage nach meiner Ankunft aufs Dulwich College geschickt wurde, hatte ich den Eindruck, ein fremdes Universum zu betreten. Das Gleiche passierte mir später in Kanada. Ich wurde in meinem Leben also zweimal aus dem Fenster gestossen und musste auf meinen Füssen landen.
Haben Sie als Heranwachsender im England der fünfziger Jahre die Frage nationaler Identitäten diskutiert?Ich hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte, und habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Nein, es war nicht so, dass man sich gefragt hätte, was es bedeutete, englisch zu sein. Gegenüber Leuten wie mir gab es ziemlich viel Rassismus, aber ich persönlich hatte Glück und habe nicht so viel davon abbekommen. Aber man hat wenig über Kultur oder Gesellschaft und solche Dinge gesprochen, das passierte sehr viel später.
"In Teilen Kanadas ist es so, dass Immigranten andere Immigranten nicht ins Land hereinlassen wollen. Das ist ziemlich bizarr."
Das Motiv der Fremden, die Sie in den beiden jüngsten Romanen an einem Tisch zusammenbringen, zieht sich im Grunde durch Ihr gesamtes Werk. Es lässt Ihr Gedicht "Red Accordion - an immigrant song" aufklingen, in dem Sie ebenfalls die selbstgewählte Gemeinschaft feiern. Können Sie die "Lieder der Immigranten" beschreiben, die Sie auf Ihren Reisen hören?Ich habe erst kürzlich etwas über die Stimme der Immigranten geschrieben. Auf der einen Seite hat man Schriftsteller wie Conrad oder Naipaul, Immigranten, die sich von ihrer früheren Heimat lösten und auch in ihrer Diktion sehr englisch sind. Sie schreiben als Engländer. Aber als ich in den Fünfzigern in England lebte, waren auch die jamaicanische und die westindische Musik sehr populär. Es gab Lieder wie "Victory Test Match", ein phantastischer Song über Cricket, bei dem man jedoch das Gefühl hat, eine fremde Sprache zu lesen, weil er davon handelt, wie die West Indies die Engländer besiegt haben. Dabei handelt es sich um eine vollkommen andere Sprache als die von Naipaul oder Conrad.
Wie nehmen Sie den gegenwärtigen historischen Augenblick wahr, in dem die Vielstimmigkeit zugunsten einer einzelnen, nationalen Stimme unterdrückt zu werden droht?Ich finde das ziemlich erschreckend. Die Art und Weise etwa, wie Trump es anderen ermöglicht hat, Dinge zu sagen, die sie ohne seinen Erfolg niemals gesagt hätten. Ich weiss nicht, wie man mit dieser Art von Rassismus und rigorosem Nationalismus umgehen soll. In Teilen von Kanada ist es so, dass Immigranten andere Immigranten nicht ins Land hereinlassen wollen. Das ist ziemlich bizarr. Sobald du drin bist, schützt du, was drinnen, und nicht, was draussen ist. So, als ob all diese Menschen, die in den letzten hundert Jahren gekommen sind, nicht mitgeholfen hätten, das Land aufzubauen.
Welche Bedeutung hat ein Roman wie "Kriegslicht", der in einer Zeit des wieder erstarkenden Nationalismus auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurückblickt - auf einen Zeitpunkt also, zu dem die Landkarten neu vermessen wurden?Das rührt an ein Problem, das selten auf direkte Weise diskutiert wird oder offiziell zur Sprache kommt. Die Frage, wie man einen Krieg beendet, ist sehr komplex. Der Friede ist eine sehr gefährliche Sache. Friede führt oft zu Verträgen, die grosse Teile der Welt zerstören können. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahmen die Probleme im Mittleren Osten zu. Zur Komplexität der Beendigung eines Krieges gehört auch, dass es viele Themen gibt, die begraben werden und nur darauf warten, wieder aktiviert zu werden. Der Krieg wird niemals vorüber sein, weil es immer einen neuen Krieg gibt, der auf den Friedensverträgen eines früheren Krieges basiert.
"Ich habe kein Interesse, mich selbst zu repräsentieren. Die Repräsentation von Ruhm ist lächerlich."
Genügt es, wenn Literatur in Zeiten wie den unseren an die Leben anderer erinnert, dem Leser Empathie abverlangt und uns für die Dauer der Lektüre Trost spendet?Ich glaube nicht, dass Trost die Antwort ist. Literatur ist ebenso da, um zu verstören. Zu erinnern, zu verstören, zu aktivieren.
Verbindet sich damit für einen Schriftsteller, der mit fünfundsiebzig Jahren auf der Höhe seines Ruhms zu stehen scheint, eine Verantwortung?Ich habe kein Interesse, mich selbst zu repräsentieren. Die Repräsentation von Ruhm ist lächerlich. Ich versuche mich selbst nicht als öffentliche Person zu sehen, zum Teil deshalb, weil es sehr schwierig ist, als öffentliche Person zu schreiben. Ich wünschte, ich wäre ein Essayist und könnte als solcher schreiben. Aber alles, was ich kann, ist, Menschen darzustellen und wie in "Anils Geist" zu sagen: "So ist es, sich als Arzt oder Durchschnittsbürger in einem entsetzlichen Krieg in Sri Lanka zu befinden." Ich kann mich nicht auf eine Kiste stellen und rufen: "Ihr müsst dieses oder jenes tun." Ich habe keine Ahnung, wie man einen Roman schreibt, der die Welt verändert.