Barack Obama bewundert Marilynne Robinson so sehr, dass er mit ihr ein langes Gespräch für die illustre "New York Review of Books" führte. Wer ist die hierzulande noch wenig bekannte Schriftstellerin?
"Ich habe dir gesagt, dass dein Leben vielleicht ganz anders sein würde als meines", schreibt Pastor John Ames in Ihrem Roman "Gilead" an seinen siebenjährigen Sohn. "Und dass es ein prima Leben sein würde, weil es so viele Arten gebe, ein gutes Leben zu leben." Was versteht Ames im Jahr 1956, als er den Brief schreibt, unter einem "guten Leben"?
Ames ist Nachkomme einer Reihe von Männern, die ihm in metaphysischer Hinsicht glichen. Sie alle waren dank ihrer Religion höchst empfindsam für die Welt und ihre eigene Existenz in dieser Welt. Sie hatten eine überaus feine Wahrnehmung für die Schönheit und Sonderbarkeit der Dinge. Ich nehme an, Ames würde daher jedes Leben, das der Welt diese Art von Aufmerksamkeit schenkt, als gutes Leben bezeichnen. Ich bin fasziniert von den Lehren Calvins, der die Schöpfung als "Theater der Herrlichkeit Gottes" bezeichnet hat, und nehme an, diese Faszination hat sich auf meine Figur übertragen.
Ist Ames' Wahrnehmung, die tiefe Liebe zu seinem Sohn und zu allem Leben, in jenem Moment zudem durch das Wissen um seinen bevorstehenden Tod geprägt?
Ich bin noch keine 73 Jahre alt und war sogar deutlich jünger, als ich den Roman schrieb. Aber selbst damals war mir sehr bewusst, dass eine Zeit kommen wird, in der ich nicht mehr da sein werde, um die Herrlichkeit der Welt zu bewundern. Auch Ames lebt mit diesem Bewusstsein, mit der Trauer, die Welt und seinen geliebten Sohn verlassen zu müssen. Aber mit dem Wissen um die Knappheit der verbleibenden Zeit kann jeder Moment von grossem Reichtum sein.
Können Sie Gilead beschreiben, die kleine Ortschaft in Iowa, in der Ihr Roman spielt?
Im Mittleren Westen gab es eine ganze Reihe von Städten, die wie mein fiktives Gilead an der ehemaligen Grenze zu den Südstaaten gegründet worden waren, um die Ausweitung der Sklaverei in den Norden zu verhindern. Die in den 1850er Jahren von den Abolitionisten gegründete Stadt Lawrence in Kansas ist ein berühmtes Beispiel. Als ich nach Iowa kam, wo ich seit Anfang der Neunziger am Writers' Workshop der Universität unterrichte, wusste ich kaum etwas über die Geschichte dieser Städte, die typischerweise aus Colleges hervorgegangen sind, und fragte mich, weshalb die Leute mitten in der Prärie dieses Netzwerk von Colleges errichtet hatten. Ich fand heraus, dass diese Städte ursprünglich dazu da waren, das liberale politische Umfeld zu fördern, das sich die Gegner der Sklaverei wünschten.
Obwohl sich Ihr Erzähler an seinen Grossvater erinnert, der die Männer seiner Gemeinde in den Bürgerkrieg "gepredigt hatte", um die Konföderation der Sklavenhalterstaaten zu bekämpfen, scheint die Vergangenheit anderen Figuren nicht sonderlich präsent zu sein.
Nach dem Bürgerkrieg wurde die Erinnerung an die historischen Wurzeln dieser Städte verdrängt, als wäre es zu schmerzhaft, sich an diesen Teil der Geschichte zu erinnern. In Iowa gab es zum Beispiel nie ein Gesetz, das die Heirat eines Weissen mit einer Schwarzen verbot, doch etablierte sich im Lauf der Zeit auch dort ein Konservatismus, der es unmöglich machte, über diese Thematik zu sprechen, und der eine meiner Figuren fast zerbrechen lässt. Zwar reden wir in Amerika obsessiv von der Vergangenheit unseres Landes, aber meist auf eine unzulängliche, wenig komplexe Weise, die bestimmte Bereiche der Geschichte so stark verdrängt, dass nachfolgende Generationen schliesslich nichts mehr von ihnen wissen.
Welches sind die "einfachen Tugenden" des kleinstädtischen Amerika, von denen Barack Obama sagte, dass er sie an Ihrem Werk besonders schätze?
Ich selbst hätte diese Formulierung nicht verwendet. Ich habe an allen möglichen Orten gelebt und wurde überall anständig und freundlich behandelt - gleich, welcher Hautfarbe die Menschen waren oder welcher Religion sie angehörten. Ich kann keinen Unterschied zwischen den Tugenden von Dorf- oder Stadtbewohnern ausmachen. Was mich jedoch sehr interessiert und sich für manchen Leser meines Werks vielleicht als "einfache amerikanische Tugend" offenbart, ist die calvinistische Vorstellung, dass jede Begegnung mit einem anderen Menschen eine Begegnung mit Gott ist. Dass jeder Begegnung die Frage innewohnt, was Gott von diesem besonderen Moment verlangt. In Ames kommt dieser Gedanke beispielsweise zum Ausdruck, wenn er sich wünscht, eine der anderen Figuren, von der er sich ein unzureichendes, vordergründiges und letztlich falsches Bild macht, bis auf den Grund der Seele zu verstehen.
Können Sie mit diesem Wunsch auf Donald Trump blicken?
Trump ist ein ganz und gar eigenwilliges Phänomen, aber die Reaktionen, die er hervorruft, sind interessant. Vieles von dem, was er sagt, hört man vermutlich auch in den Hinterzimmern seiner gleichgesinnten Freunde, aber sobald er damit an die Öffentlichkeit tritt, klingt alles vollkommen bizarr und unmenschlich. Das Licht der Öffentlichkeit entblösst seine Ansichten, und man hat den Eindruck, jemand spreche im Delirium eines Fiebers und versuche anschliessend zurückzurudern.
Unterzieht er das Recht auf freie Meinungsäusserung einer Zerreissprobe?
Die Meinungsfreiheit ist nichts, mit dem man leichtfertig umgehen sollte. Trump ist ein Megalomane, und ich bezweifle, dass er viele Gedanken auf das verschwendet, was die Vereinigten Staaten im Kern ausmacht. Er ist kein Verfassungsrechtler und scheint allem, was nicht in Grossbuchstaben seinen eigenen Namen trägt, wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist eine erschreckende Fehlfunktion des Parteiensystems, dass die Republikaner mit diesem Kandidaten ins Rennen gehen mussten.
Zeigt sich die Stärke der amerikanischen Demokratie auch darin, dass sie einen Wahlkampf aushält, der mitunter wie eine Inszenierung der amerikanischen Unterhaltungsindustrie wirkt?
Neben den anderen Kandidaten der Republikaner galt Trump von Anfang an als so lächerlich, dass die Bedrohung, die er darstellte, sowohl von der Partei selbst als auch von anderen zu spät erkannt wurde. Amerika hat nie zuvor etwas Vergleichbares erlebt, und wir werden gewiss daraus lernen. Andererseits ist es zwingend, das Verfahren zu wahren und jemandem wie Trump dasselbe Recht auf Redefreiheit einzuräumen wie jedem anderen Kandidaten. Ich nehme dennoch an, dass die Republikaner Vorkehrungen treffen werden, damit die Partei etwas Ähnliches kein zweites Mal erlebt.
Was wäre, wenn Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen würde?
Sollte das aufgrund eines schrecklichen Zufalls doch noch geschehen, was Gott verhindern möge, würde er sich umgehend in einer Staatskrise befinden, da die meisten seiner Vorhaben von einem Präsidenten gar nicht durchsetzbar sind. Er wäre durch die politische und rechtliche Grundordnung so eingeschränkt, dass ihm kaum Möglichkeiten blieben, was für die USA natürlich ebenfalls ein enormes Problem bedeuten würde. Aber immer noch besser, als ihm zu gestatten, seine Pläne umzusetzen.
Am 8. November verlieren Sie zwar nicht Ihren prominentesten Leser, aber doch einen Präsidenten, mit dessen Amtsantritt 2008 grosse Hoffnungen verbunden waren.
Barack Obama würde mit Leichtigkeit gewinnen, wenn er abermals antreten dürfte.
Eine mutige These. Worauf gründet sich denn Ihre Überzeugung?
Er hat Bedeutendes geleistet, nicht zuletzt die Einführung der staatlichen Krankenversicherung. Vergessen Sie auch nicht den jungen Rechtsprofessor, der 2008 die Bühne einer vom Einsturz bedrohten Welt betrat und die strauchelnde Wirtschaft so schnell und effektiv gesunden liess, dass es fast unheimlich wirkte. Aber Obama hat noch etwas anderes geleistet, das mich sehr berührt. Er hat die Würde seines Amtes gewahrt und damit auch die unseres Systems und unserer Demokratie. Er ist den niederträchtigsten Angriffen mit Haltung und Anstand begegnet und hat damit verhindert, dass das Ansehen des Weissen Hauses und der Verfassung Schaden nimmt. Die Präsidentschaft ist für das Selbstverständnis dieses Landes von derart entscheidender Bedeutung, dass diese Leistung in einer Zeit, da selbst der Kongress die Würde der Regierung nicht wertzuschätzen scheint, kaum hoch genug bewertet werden kann.
Offenbar steht Obama für Sie trotz allem für einen Humanismus, den Sie eigentlich in einem Essay von 1998 bereits totgesagt hatten. Wie geht das zusammen?
Der Begriff "Humanismus" ist schwer zu definieren, und ich habe ihn damals vielleicht in einem historischen Sinn verwendet. Tatsächlich aber sprechen wir über das Ich und die Beschaffenheit des menschlichen Geistes heute auf eine Art, die den Reichtum dessen, was die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte hervorgebracht hat, weitgehend ausklammert, um ihn auf so unzulängliche Modelle wie den Behaviorismus, den Freudianismus oder Theorien wie die von Richard Dawkins oder Daniel Dennett zu reduzieren. Damit verleugnen wir den unermesslichen Reichtum des menschlichen Erbes und erleben nichts anderes als die Kriegszonen, in denen Museen und Tempel zerstört werden.
Das meint wohl auch der Erzähler von "Gilead", wenn er seinen Sohn ermahnt, den modernen "Angriffen auf den Glauben" keine Beachtung zu schenken.
Ich liebe die Naturwissenschaften, aber ich habe nichts übrig für einen Reduktionismus, der sich etwa darin zeigt, dass ein Denker wie Bertrand Russell auf der Basis der nicht sonderlich fortschrittlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse des Jahres 1935 behauptete, es gebe kein Ich, keine Seele und vor allem natürlich keinen Gott. In meinen Augen hat ein wirklich erfülltes Leben mit einer viel umfassenderen Ehrfurcht zu tun. Wenn man die furchteinflössende Kraft des Universums betrachtet, hat dieser kleine Kokon, in dem wir auf so unzulängliche Weise Schutz finden, etwas Wunderschönes. Ihn und alles, was er hervorbringt, geringzuschätzen, wäre vermutlich sündhaft, wenn Sie mir den Begriff erlauben. Ich bin auf meine Art vielleicht eine Mystikerin, aber ich warte nicht auf Visionen. Was könnte aussergewöhnlicher sein als diese seltsame, strahlende Welt, in der es uns freisteht, einander endlos viel Leid zuzufügen.
ThD. ⋅ Unlängst erschien bei S. Fischer die deutsche Ausgabe von Marilynne Robinsons Roman "Gilead". Das Buch bescherte der 1943 in Idaho geborenen Schriftstellerin 2004 einen Pulitzer-Preis und wurde als eines der Lieblingsbücher Barack Obamas zum Bestseller. Gemeinsam mit "Home" (2008) und "Lila" (2014, deutsch unter demselben Titel erschienen) bildet der Roman eine Trilogie, die Robinsons Rang unter den bedeutenden Autorinnen Amerikas bestätigt. Ein Dokument der gegenseitigen Hochachtung zwischen ihr und dem US-Präsidenten ist das lange Gespräch der beiden, das 2015 in der "New York Review of Books" abgedruckt wurde.