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Sozialdemokratie in der Krise, Gastbeitrag Thomas Beschorner

Sozialdemokratie in der Krise Linke Heldengeschichte dringend gesucht

Mit dem Ende des Sozialismus ist nicht nur dem Kapitalismus der Gegenspieler abhandengekommen, auch die Sozialdemokratie hat verloren: Sie hat keine populäre Geschichte mehr zu erzählen. Das ist ein Problem für die Demokratie insgesamt.

1989 endete eine Geschichte. Mit dem Ende des Sozialismus in der sogenannten zweiten Welt wurde ein Gesellschaftssystem besiegt, das den westlichen Gesellschaften des Kapitalismus gegenüberstand. Die erste Welt hatte gewonnen, wie konnte es auch anders sein. Das Ende der Geschichte, von dem hier die Rede ist, meint nicht den Verfall der Institutionen des damaligen Ostblocks und die schrittweise Überführung osteuropäischer Länder in eine kapitalistische Wirtschaftsweise. Das Ende der Geschichte ist vielmehr das Ende einer Erzählung, das Ende eines Narrativs, das den Kapitalismus selbst betrifft und uns nun, knapp 30 Jahre später, einholt.

Die verlorene Geschichte

Die Welt war gut sortiert. Der gute Westen hier, der böse Osten dort. Und es ging um die Wurst: beim Wettrüsten, beim Reisen ins All, bei Olympia, in jedem zweiten "James Bond"-Film. Es ist das Zeug, aus dem Geschichte(n) gemacht werden, nicht nur in der Literatur oder im Film. Hierzu reichen ein paar einfache Zutaten: Eine Unterscheidung in "wir" und "ihr" - oder besser "wir" und "die da" - ist wichtig. Es braucht Helden (mit Superkräften) für ein gutes Drama. Und Gegenspieler, ebenfalls mit Superkräften, damit es nicht so einfach wird. Sie markieren eine Differenz zum "wir" und sind dadurch identitätsstiftend. Es fehlt für eine gute Story jetzt nur noch ein Set von Ereignissen, in Erzähltheorien spricht man auch von Sujets (Lotman), also gewissermaßen eine Szene, in der unsere Protagonisten ihre Kräfte messen können. "Der Osten" baut eine große Mauer, zum Beispiel, oder Martina Navratilova spielt gegen Chris Evert-Lloyd im Endspiel von Wimbledon.

Die Mauer gibt es nicht mehr. Navratilova und (inzwischen nur noch) Evert sind seit vielen Jahren gute Freunde. Der Antiheld ist tot. Die Geschichte ist "sujet-los" geworden und kann kaum mehr eine narrative Dynamik entfalten. Welche Geschichten können wir nun noch erzählen?

Dem Kapitalismus ist durch das Ende des Sozialismus ein wichtiges Narrativ und damit auch ein Stück weit ein Korrektiv der eigenen Idee abhandengekommen, nämlich Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit als inhärenten Bestandteil seiner selbst zu betrachten. Der Kuchen sollte über "schöpferische Zerstörungen" (Schumpeter) größer gebacken werden, meinten Neoliberale wie Milton Friedman. Schön und gut, aber wenigstens in Europa immer auch mit Blick auf Verteilungs- und Partizipationschancen, so las sich Kapitalismus als "soziale Marktwirtschaft". Denn der Prozess kreativer Destruktion "zerstört nicht nur Unternehmen, sondern auch Karrieren und Lebensentwürfe", so der Ökonomie Martin Kolmar.

Wer ist die SPD?

Es gibt eine zweite Geschichte, die mit der ersten in einem Zusammenhang steht und einen weiteren politischen Einschnitt markiert. Vor den Regierungszeiten von Gerhard Schröder und Tony Blair waren auch innenpolitische Fragen nach dem obigen Muster wohlsortiert. Es gab die wirtschaftsliberal Konservativen auf der einen Seite des Tisches, für die "Freiheit" das höchste Gut war und für die sie eintraten. Auf der anderen Seite des Tisches saßen Sozialdemokraten, die (stets gewerkschaftsnah) für das Prinzip der "Gerechtigkeit" standen. Je nach politischer Gemengelage waren mal die Konservativen, mal die Sozialdemokraten am Ruder. Die Rolle des jeweils anderen nannte man damals Opposition.

Beginnend mit den Regierungen unter Schröder und Blair wandelten sich weite Teile der europäischen Sozialdemokratie zu etwas, wofür sie bis heute selbst eine Bezeichnung sucht - irgendwas mit "Modernisierung" vermutlich. Sie besetzte klassisch wirtschaftsliberale Themen und machte sich diese, wie die Konservativen, zu eigen. Fragen der Gerechtigkeit standen fortan eher hinten an. Man mag argumentieren, dass eine Erneuerung der Sozialdemokraten Ende des letzten Jahrhunderts in der Tat angebracht war, dass man mit den alten Arbeiterparolen nicht mehr weitergekommen wäre. Man mag auch argumentieren, dass die Globalisierung nichts anderes zuließ oder dass es Deutschland heute wirtschaftlich gut geht. Doch auch wenn dem so wäre, muss gefragt werden, um welchen Preis die sozialdemokratische Bewegung Richtung "Mitte" vonstattenging.

Mit Blick auf Deutschland stellt sich zum einen die Frage, was Sozialdemokratie heute, im 21. Jahrhundert, eigentlich noch ausmacht. In den vergangenen Jahrzehnten mehrfach angepasster Juniorpartner in der großen Koalition mit den Christdemokraten, zwischendurch Regierungspartei unter Schröder, scheint sie so ziemlich jedes politische Profil verloren zu haben. Man kann es den aktuellen und vergangenen Spitzenpolitikern nicht persönlich vorwerfen, dass sie stets so blass bleiben, wenn es keine wirkliche Parteiidee mehr gibt. Aber lassen wir das für einen Moment das Problem der SPD sein.

Geschichten in der politischen Gemengelage

Zum anderen, und dieses Problem ist gravierender, stellt sich die Frage nach der neuen politischen Gemengelage insgesamt. Die aktuellen Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag können das sozialdemokratische Vakuum bislang kaum für ihre politischen Zwecke nutzen. Die Geschichten, die sie zu erzählen versuchen, sind Geschichten über den Antihelden ("die da oben"), ohne dass daraus eine eigene positive Geschichte entwickelt werden konnte. Einem sozialistischen Narrativ der Partei "Die Linke" steht der Großteil der Bevölkerung kritisch gegenüber. Grüne Projekte sind inzwischen derart von allen Parteien eingemeindet worden, dass sie nicht mehr für eine politische Profilbildung taugen. Nachhaltigkeit finden alle cool, auch wenn unter dem Begriff sehr unterschiedliche Dinge verstanden werden. Und außerdem: Wie heißt noch gleich die deutsche Bundesumweltministerin?

Ganz anders sieht es bei den Entwicklungen rechts der Mitte aus, was nicht nur die AfD in Deutschland, sondern eine ganze Reihe von europäischen Ländern in ähnlicher, teilweise bedrohlicher Art und Weise betrifft. Rechtspopulistischen Parteien ist es, wie der Franzose Didier Eribon notiert, in ihren Erzählungen gelungen, "dass nun nicht länger die 'Arbeiter' den 'Bourgeois' gegenüberstehen, sondern die 'Franzosen' den 'Ausländern'" - wenigstens teilweise. Und es kann uns passen oder nicht, in Deutschland sieht es kaum anders aus.

Das Narrativ rechtsorientierter Parteien in Europa - und in der Geschichte insgesamt - findet über Abgrenzungsdiskurse statt, die aber derart gestaltet sind, dass sie auch Identitäten stiften: nicht nur Anti-Europa, sondern "wir" Deutsche; nicht nur "die" Flüchtlinge, sondern "unsere deutschen Werte". Das führt mitunter zu geradezu fantastischen Begriffs- und Ideenschöpfungen wie den "Reichsbürgern". Sie sind erzähltheoretisch "sujet-haft", und genau das begründet ihren Erfolg.

Es ist im Übrigen kein Zufall, dass wir inzwischen über das "Postfaktische" sprechen oder "Fake News" zur Kenntnis nehmen müssen. "Fiktion" kann eine Erzählform sein, die verfängt, vielleicht auch, weil das reale Leben als so miserabel und bedroht wahrgenommen wird. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass derartige Erscheinungen Ausdruck einer übermäßig rationalisierten Welt sind, in der - sei es mit Kollegen, Freunden und Familie oder an irgendeiner Theke - stets "vernünftig" argumentiert werden muss.

Populäre Linke versus linker Populismus

Für das oben Beschriebene gibt es ein Wort: Populismus. " Populus", das Volk (erhebt die Stimme oder bildet sich eine Meinung); dagegen sollte ja eigentlich nichts einzuwenden sein. Eigentlich ganz im Gegenteil: Gesellschaftliche Partizipation aller ist in Demokratien von hervorragender Bedeutung! Was freilich stört, ist wenigstens zweierlei: Erstens, ein "völkisches" Denken - hatten wir schon mal, muss nicht wieder sein. Zweitens, die tendenzielle Weigerung, in eine argumentative Auseinandersetzung einzutreten, sich zu rechtfertigen, ja gute Gründe für die eigene Position anzugeben, die auch die Belange anderer berücksichtigt, denn sonst wird die Gesellschaft zu einem Haifischbecken.

Nationalistische bis völkische Anwandlungen können nicht toleriert werden. Auf ein rationales Geben und Nehmen von "guten Gründen" in einer Demokratie darf man nicht verzichten. Aber ist es damit getan, dass wir nun wieder mehr Vernunft einfordern? Ich denke: Nein.

Es scheint, erstens, erforderlich, dass Politik und die Arbeit der klassischen Parteien populärer, aber nicht populistisch wird; sprich: Sie muss Erzählformen entwickeln, die bei den Bürgern besser verfangen, ohne sich dabei demokratiefeindlichen Ausgrenzungen bestimmter Gruppen zu bedienen. "Wir-Die-Unterscheidungen" verschiedener Positionen sind wichtig für die Popularität von Politik, gehören aber in den Prozess der politischen Auseinandersetzung. Insofern brauchen wir keinen "linken Populismus", sondern eine "populäre Linke".

Damit dies aber überhaupt gelingen kann, bedarf es, zweitens, klarer Oppositionen demokratischer Parteien untereinander. Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe hat in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass Demokratie von politischen Gegnerschaften lebt: "Politik ohne Grenzen und Gegner funktioniert nicht". Sobald die Unterschiede politischer Ideen und Programme traditioneller Parteien verschwinden, liegt die Story für neu auftretende Parteien wie auf dem Präsentierteller. Kommt dann noch ein "Sujet" ins Spiel, wie die Flüchtlingsströme nach Westeuropa, können einfache, aber "sujet-hafte" Geschichten erzählt werden, die zu Wählerstimmen führen.

Ist die Sozialdemokratie noch zu retten?

Sozialdemokratische Parteien haben nach Chantal Mouffe einen entscheidenden Fehler begangen: "Anstatt das System herauszufordern, haben sie sich zum aktiven Teil dieses Systems gemacht." Deswegen, so die belgische Intellektuelle, "besteht kaum Hoffnung, dass die europäische Sozialdemokratie überlebt. Sie ist nicht mehr zu reparieren."

Mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl insgesamt und auf die SPD im Besonderen folgt daraus, erstens: bitte keine große Koalition! Sie würde einem rechten Populismus weiter Vorschub leisten. Für die SPD könnte eine erneute Partnerschaft mit den Christdemokraten der Anfang vom Ende einer großen Volkspartei sein.

Wenn die Sozialdemokraten überhaupt noch zu retten sind, dann scheint dies, zweitens, nur über eine radikale Neuorientierung der SPD möglich, die an der Idee sozialer Gerechtigkeit in sozialdemokratischer Tradition anknüpft, diese aber zukunftsorientiert auf neue "Sujets" bezieht.

Dabei ist, drittens, die Erzählweise einer gesellschaftlichen Solidarisierung (die Heldengeschichte) von besonderer Bedeutung, die sich scharf von einer neoliberalen Hegemonie (der Gegenspieler) abgrenzt. Die neu zu erzählende Geschichte sozialdemokratischer Orientierung braucht positiv konnotierte Bezeichnungen und ein Repertoire geeigneter Metaphern, die in einfacher Art und Weise ausdrücken, um was es einer Sozialdemokratie geht. Das ist nicht die Aufgabe einer Werbeagentur, sondern von (sozialdemokratischer) Politik (aber bitte nichts mit 3.0, 4.0 oder so). Und es geht dabei im Kern natürlich nicht darum, sich opportunistisch auf gesellschaftliche Stimmungen einzulassen, sondern politische Angebote zu machen, die in der Gesellschaft resonieren.

Viertens, ein Set konkreter und gehaltvoller Vorhaben exemplifiziert die Idee gesellschaftlicher Solidarität. Die konkreten Projekte sollten einfach und visionär sein. Sie müssen als markante Vorschläge in Reinform nicht notwendigerweise so umsetzbar sein, aber wenigstens die Chance auf praktische Realisierung haben und "sujet-haft" sein.

Geeignete Themen liegen ausreichend in der Luft: ein Grundeinkommen beispielsweise, die Einführung eines Unternehmensstrafrechts, eine verbindliche Frauenquote, der Sechs-Stunden-Arbeitstag oder radikalere Ideen zur Besteuerung von Vermögen oder Erbschaften. Gleichgültig welche Vorhaben verfolgt werden, diese oder andere, es wird für die Sozialdemokratie von wichtiger Bedeutung sein, ihre politischen Projekte als Gerechtigkeits- und Solidarisierungserzählungen zu bearbeiten und sich bei all den Themen sorgfältig von neoliberalen Weichspülungen abzugrenzen.

Die SPD und andere sozialdemokratische Parteien in Europa sollten sich auf die Suche nach einer populären Linken begeben - jetzt!

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