Michael Zimmermann aus Emmendingen verlor nach einer Sepsis seine Beine, Augenlicht und Fingerkuppen – er hätte allen Grund, in ein Loch zu fallen, gibt aber nicht auf. Eine Geschichte von zwei Leben.
Es ist ein kalter und trüber Novembertag im Jahr 2015, als Michael Zimmermanns erstes Leben vorbei ist. Er hat gerade eine Leistenbruch-OP hinter sich und fühlt sich nicht wohl. Den ganzen Tag über hat er mit leichtem Fieber auf der Couch gelegen, jetzt will er sich draußen die Beine vertreten. Im Hof seines Hauses im Emmendinger Ortsteil Maleck raucht er eine Zigarette, da schießt ihm ein Schmerz in die Beine, als hätte ihm jemand ein Messer ins Fleisch gerammt.
Er krümmt sich, schreit auf, habe nicht gewusst, wie ihm geschieht, erzählt er, wenn er zurückdenkt. Er geht nach drinnen, stellt sich unter die Dusche und lässt Wasser über seine taub werdenden Füße laufen. Dass es kochend heiß ist, habe er nicht gemerkt. So findet ihn seine Mutter Rosemarie Zimmermann. Sie dreht das Wasser ab und ruft den Krankenwagen. Zimmermann weiß noch, wie er dachte: Das endet nicht gut. Er landet in der Notaufnahme der Freiburger Uniklinik. Das letzte, woran er sich erinnern könne, sei, wie er kurz nach halb zwei seine Mutter anruft und ihr sagt: "Ich bleibe die Nacht über besser hier."
Von heute auf morgen ist sein bisheriges Leben vorbei
Bis zu diesem Zeitpunkt war Michael Zimmermann technischer Teamleiter bei Pfizer und zuständig für die Maschinen, mit denen Medikamente wie das Opioid Valoron oder das Antiepileptikum Lyrica verpackt werden. Beide wird er später einnehmen. Er ist damals 44 Jahre alt, ein guter Koch, fährt gern Rad, hat gerade das alte Bauernhaus seiner Eltern renoviert und sich darin eine Einliegerwohnung ausgebaut. Von heute auf morgen ist dieses Leben vorbei. Michael Zimmermann hat einen septischen Schock und kommt auf die Intensivstation.
Die nächsten eineinhalb Monate, erzählt er, steht er unter Schmerzmitteln und dämmert in einer Art Koma vor sich hin. Er bekommt nicht mit, dass seine Lunge, Niere, Leber, Magen und Darm aufgrund der Sepsis versagen, dass ihm in 17 Operationen beide Unterschenkel und die Fingerkuppen der linken Hand amputiert werden müssen, dass seine Sehnerven absterben und er erblindet. Er habe geträumt, von Türen, die er durchqueren muss, immer und immer wieder – und geglaubt, er liege in einem Schwarzwaldhof und werde von Aliens beatmet.
Eine Sepsis, auch Blutvergiftung genannt, beginnt mit dem Eindringen von Viren, Bakterien, Pilzen oder Parasiten in den Körper. Das kann bei einer Lungenentzündung passieren, einer Harnwegsinfektion, aber auch bei Durchfall. Die Symptome – Desorientierung, beschleunigte Atmung, niedriger Blutdruck, schneller Herzschlag, Fieber – deuten auf viele Krankheiten hin. Deshalb wird Sepsis oft zu spät erkannt. Das ist fatal. Denn während sich eine leichte Sepsis gut mit Medikamenten behandeln lässt, reagiert bei einer schweren Sepsis oder bei einem septischen Schock das Immunsystem über. Die körpereigene Abwehr greift die Organe an, die versagen.
Eine leichte Sepsis lässt sich gut behandeln, werden die Symptome rechtzeitig erkannt
Jedes Jahr sterben täglich im Durchschnitt 257 Menschen in Deutschland an Sepsis. Jede dritte Infektion endet tödlich. Das ließe sich vermeiden, würde sie früher erkannt – in den USA, Großbritannien oder Australien zum Beispiel sind die Zahlen weit niedriger.
Auch die Ärzte, die Zimmermann behandelten, hätten aus seiner Sicht die Symptome nicht richtig gedeutet. Das Verfahren gegen jenen Notarzt, den er schon zwei Tage vor seinem Zusammenbruch wegen Unwohlseins kontaktiert hatte und der die Infektion nicht erkannte, läuft noch. Ebenso das Verfahren um Schmerzensgeld und Schadensersatz gegen den Arzt, der ihn zuvor an der Leiste operiert hatte.
Als er die ersten klaren Momente hat, ist schon Januar. Regelmäßig kommen Pfleger und wickeln ihm die Beine zwei Zentimeter dick in Mullbinden ein, um die Stümpfe rund zu formen. Er habe das einfach über sich ergehen lassen, ohne es zu verstehen, sagt Zimmermann. Die Geräusche der Maschinen um ihn herum kann er heute noch nachmachen. Wenn er sich im Bett dreht, bleibt er an den Schläuchen hängen, die seinen Körper mit ihnen verbinden. "Dann ist es kurz in mir hochgekommen: Das hier ist ernst."
"Dann ist es kurz in mir hochgekommen: Das hier ist ernst."
Michael Zimmermann
70 Tage bleibt er in der Uniklinik. Kurz bevor er entlassen wird, bringt ihm der Orthopäde seine Prothesen. Es sei das erste Mal gewesen, dass er seine Beine berührt, sagt Zimmermann und erzählt, wie es in seinen Zehen gekribbelt habe, während er die Prothesen über die Stümpfe zog, die kurz nach den Knien enden. "Da habe ich gedacht, das kann doch nicht wahr sein."
Wenige Tage später macht er die ersten Schritte. Seine Mutter ist überglücklich und filmt, aber Zimmermann sagt, er habe sich nicht freuen können. "Die Prothesen haben sich angefühlt wie schwere Klötze", erinnert er sich.
Michael Zimmermann muss sein Haus neu kennenlernen
Die folgenden Monate führt er einen Kampf mit sich selbst aus, zwischen Gelähmtheit und Tatendrang. Erst habe es ihm nicht schnell genug gehen können, er habe wieder der sein wollen, der er einmal war. Dass er in der Reha in Elzach nur morgens und nachmittags laufen üben durfte, habe ihn gestört. "Das war etwas für jemanden mit einem Schlaganfall, aber nicht für mich", sagt er. Also entlässt er sich nach zwei Wochen. Erst zu Hause angekommen, sei ihm bewusst geworden, dass er jetzt auf sich alleingestellt ist – mit den Briefen der Krankenversicherung, Rentenversicherung, Blindengeldantrag, Pflegegradprüfung, Unterlagen vom Notar. Und mit seinem körperlichen Zustand. Er muss jeden Winkel seines Hauses neu kennenlernen, läuft immer wieder gegen die Holztüren, die er nun nicht mehr sieht. Wenn er nicht mit den Prothesen übt, kriecht er über den Boden, weil seine Muskeln noch zu schwach sind, um auf den Händen zu laufen. Ein Glas halten, das kann er allein – aber Wasser einschenken, das ist eines dieser alltäglichen Dinge, für die er jetzt Hilfe braucht. Zimmermann hätte allen Grund, in ein tiefes Loch zu fallen, sich zu bemitleiden. Es gab sie, sagt er heute, diese Momente, in denen er im Dunklen liegt und sich fragt, ob das jetzt sein Leben ist und ob er das ertragen will. Aber dann sei ihm jedes Mal eingefallen, dass er das seiner Mutter nicht antun könne.
Depressive Verstimmungen, das Gefühl von Hilflosigkeit, Perspektivlosigkeit oder Verzweiflung seien verständlich in solch einer Lage, erklärt die Freiburger Psychologieprofessorin Brunna Tuschen-Caffier. "Das ist angesichts der Schwere der Belastungen sehr nachvollziehbar." Erst wenn diese Phase der Traumabewältigung überwunden sei, werde der Weg frei für neue Lebensentwürfe. Aber wie schafft man sich ein neues Leben, wenn alles, was bisher existiert hat, komplett über den Haufen geworfen wurde?
Michael Zimmermanns Antwort darauf, fünf Jahre später, ist ein Schulterzucken. "Es isch wie’s isch." Der Satz ist zu seinem Motto geworden, das er auf T-Shirts drucken lässt. Er sagt ihn, wenn er erzählt, dass er trotz seiner Blindheit ständig flimmerndes Licht sehe, was ihn ziemlich störe, aber wahrscheinlich für immer bleiben wird. Wenn er mitten im Satz abbricht und keuchend wie ein Corona-Kranker zu husten anfängt, eine Folge der kollabierten Lunge. Oder wenn er erzählt, wie er einmal auf der Treppe eine Prothese verlor und ihn der Postbote fand, blind in der Hofeinfahrt nach seinem Bein suchend. Er macht gern Scherze über seine Situation, denn das Leben sei schon viel zu ernst und er ein fröhlicher Mensch.
Im Sommer 2016 beginnt das zweite Leben
Die Wissenschaft nennt die Kraft, belastende Situationen zu akzeptieren und zu überwinden, Resilienz. Wer in einer stabilen Umgebung aufwächst, Bindungspersonen hat und noch dazu sich selbst und die Umwelt positiv wahrnimmt, könne mit Schicksalsschlägen besser umgehen. Eine wichtige Schraube, sagt Brunna Tuschen-Caffier, sei das eigene Denken. Also wie man sich selber einschätzt in dem, was man bewirken kann. "Sagt man sich: Ich kann mit meinem Schicksal nichts tun? Oder versucht man, Lösungen zu finden und sich trotzdem eine Zukunft zu entwerfen?" Michael Zimmermann sagt, dass er einer sei, der immer ein Ziel vor Augen habe und es nicht leiden könne, wenn man immer jammert. Und deshalb habe er nie aufgegeben.
Es ist ein warmer Sommertag im Jahr 2016, als sein zweites Leben beginnt. Da sitzt er gerade auf der Holzbank vor seinem Elternhaus und schwitzt, erzählt Zimmermann. Er will sich duschen und läuft wackelig auf seinen Prothesen in sein Badezimmer. Bisher habe ihm seine Mutter geholfen, aber die sitzt gerade vor dem Fernseher – und er habe das alleine schaffen wollen. Er setzt sich auf seinen Duschstuhl, zieht sich mit den Armen in die Kabine, dreht sich in alle Richtungen, fühlt, ob er den Duschkopf erreichen kann. Dann zieht er seine Prothesen aus, macht das Wasser an – und duscht. Während er sich einseift, habe er gedacht: Das ist jetzt deine neue Welt. Und das musst du annehmen. Und wenn du weiterkommen willst, musst du Dinge ausprobieren.
"Irgendwann bin ich alleine und dann muss ich das ohnehin alles selber können."
Michael Zimmermann
Also fängt er an, selber zu saugen, sein Brot zu schmieren, die Wäsche zu waschen. Als er das erste Mal zum Mittagessen die Treppe hinunter in die Küche seiner Mutter geht, anstatt dass sie ihm das Essen bringt, ist sie ganz aus dem Häuschen. Auch Zimmermann ist stolz. Mit jeder Aufgabe, die er meistert, habe er sich freier gefühlt. Wer resilient sein will, sagt Tuschen-Caffier, müsse lernen, kleine Erfolge im Alltag wahrzunehmen und sich selbst dafür zu loben.
Aber Zimmermann will nicht nur seine eigene Freiheit wiedergewinnen. Er will auch seine Mutter entlasten. "Die Frau hat viel durchgemacht", sagt er und erzählt, dass kurz vor seinem Krankenhausaufenthalt sein Vater starb – an einer Sepsis. Also habe er versucht, all die Dinge zu übernehmen, die seiner Mutter schwerfallen. Holz hacken, Getränke aus dem Keller holen, auch wenn er dafür erstmal ein Treppengeländer montieren muss, oder die Dunstabzugshaube reparieren. Er brauche eine Weile, stoße sich vielleicht, haue sich den Hammer auf die Hand – aber das sei ihm egal. Was soll ihm schon noch passieren? Und er wisse um die größte Sorge seiner Mutter: "Irgendwann bin ich alleine und dann muss ich das ohnehin alles selber können."
Mal wieder eine Runde auf dem Rad fahren
Heute sitzt Michael Zimmermann in seiner Küche, mit kurz geschorenen Haaren, Tattoos, den Hund im Arm und sagt: "Ich bin glücklich." Dass manches nicht mehr geht, habe er akzeptieren gelernt. Zum Beispiel ist seit diesem Januar klar, dass er nicht mehr arbeiten wird. Die Erwerbsminderungsrente sei nicht üppig, aber er komme damit klar. Oder dass er nie wieder Auto fahren kann. Dass man ihm verboten hat, auf Leitern zu steigen, ignoriere er allerdings. "Das mache ich dann eben, wenn keiner da ist", sagt er und grinst. Jeden Morgen joggt er eine halbe Stunde auf dem Laufband, nachmittags sitzt er an seiner Rudermaschine. Arbeiten rund ums Haus macht er selbst – kochen geht auch wieder, seitdem die Schablone für den Induktionsherd da ist. Letztens gab es Spaghetti Bolognese.
Sein nächstes Ziel sei es, zu bügeln und mit dem Hund spazieren zu gehen. Und irgendwann würde er gern mal wieder mit dem Rad auf den Kandel hoch. Er muss nur noch jemanden finden, der ihn, den Blinden ohne Beine, begleitet und ihm sagt, ob die nächste Kurve nach links oder nach rechts geht.
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