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Die deutsche Berichterstattung zum Nahostkrieg setzt meine Glaubwürdigkeit als Reporter aufs Spiel | Übermedien

Es ist das größte Krankenhaus in Gaza, von ihm und seinen Ärzten hing das Leben Hunderter Palästinenser ab, die in den vergangenen Wochen krank waren oder durch israelische Luftschläge verletzt wurden. Jetzt hat es die WHO zu einer Todeszone erklärt, offenbar wurde ein Massengrab entdeckt. Was unter dem Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza liegt, könnte aber auch den Krieg entscheiden. Jedenfalls den medialen Krieg.

Wenn sich unter dem Krankenhaus, wie von Israel behauptet, tatsächlich eine große unterirdische Hamas-Kommandozentrale befindet, wäre dessen Aushebung nicht nur ein empfindlicher Schlag gegen die Hamas. Es wäre auch eine öffentlichkeitswirksame Bestätigung, dass sich die Hamas in der Nähe ziviler Einrichtungen versteckt und für die vielen zivilen Toten die Hauptverantwortung trägt, indem sie die Bewohner von Gaza als menschliche Schutzschilde missbraucht.

Angesichts seiner wiederholten Angriffe auf zivile Ziele und der hohen Opferzahlen - mehr als 11.000 Menschen wurden bislang getötet, zwei Drittel davon Frauen und Kinder - braucht Israel diese Bestätigung dringend. Sie könnte sogar entscheidend dafür sein, ob die westlichen Staaten Israels Militäroperation noch über längere Zeit unterstützen oder angesichts der humanitären Katastrophe auf einen Waffenstillstand drängen.

So weit so gut. Was nun folgt, geht in den Darstellungen deutscher und englischsprachiger Medien aber dermaßen weit auseinander, dass ein Leser des „Guardian" und ein Leser der „Zeit" (beide Medien gelten als linksliberal), die miteinander über die Ereignisse rund um das Al-Schifa-Krankenhaus sprechen, den Eindruck haben müssten, sie leben in Parallelwelten.

Wenn Journalisten zu (defekten) Kopiermaschinen werden

Am 14. November drangen Soldaten der israelischen Armee (IDF) in das Krankenhaus ein. Was nach Aussagen des Armee-Sprechers Daniel Hagari im Al-Schifa-Krankenhaus bislang gefunden wurde, sind ein Tunnelschacht, einige Waffen sowie Hamas-Symbole und-Uniformen. Am Sonntagabend wurde außerdem die Entdeckung eines 55 Meter langen Tunnels vermeldet. Am Montag wurden Aufnahmen von Überwachungskameras veröffentlicht, die zeigen sollen, wie am 7. Oktober Geiseln in die Klinik verschleppt wurden.

Auch wenn man einem Beweis in der Zwischenzeit näher sein mag - für die meisten englischsprachigen Medien waren die ersten Meldungen der IDF aus Gaza aber zunächst weit entfernt von dem, was versprochen wurde: einer großen Kommandozentrale direkt unter dem Krankenhaus.

„Die IDF-Beweise reichen bei weitem nicht aus, um das Al-Shifa-Krankenhaus als Hauptquartier der Hamas zu identifizieren", titelte der Guardian. „Sie (die israelischen Verteidigungskräfte) müssen den Beweis für die große Befehls- und Kontrollzentrale, die sie dort vermuten, noch immer erbringen", schrieb CNN. Angesichts der anhaltenden Suche nach der großen Kommandozentrale titelte die New York Times: „Der Druck steigt, während Israel ein Gaza-Krankenhaus nach der Hamas durchsucht". Selbst die konservative israelische Tageszeitung Jerusalem Post kommentierte am 15. November nüchtern: „Der erwartete dramatische Kampf oder die erwarteten Ergebnisse in Schifa sind bis Redaktionsschluss nicht eingetreten."

Angebracht ist also nach wie vor: Abwarten. Vorschnelle Schlüsse sind im Falle von Al-Shifa das unverkennbare Zeichen von Parteilichkeit, von fehlender Objektivität. Während die pro-palästinensische Seite nach den unzureichenden Beweisen die vermutete Hamas-Kommandozentrale schon als „israelische Lüge" abstrafte, versuchte die pro-israelische Seite, die spärlichen Funde als Beweis zu verkaufen.

Zu vorschnellen Schlüssen ließen sich auch auffallend viele deutsche Medien verleiten. Nach der ersten Pressekonferenz des IDF-Sprechers Daniel Hagari am Abend des 14. November stand für sie alles schon fest. An den darauffolgenden zwei Tagen lauteten die Schlagzeilen etwa so: „‚Wir haben den Beweis': Israel findet Hamas-Kommandozentrum bei Al-Shifa-Erstürmung" ( n-tv), „Israelische Armee findet Hamas-Einsatzzentrum im Schifa-Krankenhaus" ( „Zeit"), „Israel: Waffen im Schifa-Krankenhaus gefunden" ( ZDF). Erst nach Tagen kamen langsam Zweifel auf: „Kommandozentrale der Hamas doch nicht unter Al-Shifa-Krankenhaus?", fragte der Nachrichtensender Welt am vergangenen Samstag.

Es ist freilich der Job eines Armeesprechers, selbst kleinere Funde als großen Erfolg zu verkaufen. Es wäre aber auch der Job von Journalisten, die Beweiskraft der Funde unabhängig einordnen zu können. Stattdessen beschränkte man sich aufs Abschreiben. Wobei eine Kopiermaschine zum Teil bessere Arbeit geleistet hätte. Denn auch Hagari ließ bei einer Pressekonferenz am 16. November zwischen den Zeilen Zweifel zu: „Wir werden weiter berichten, sobald wir bestätigte Informationen über alle weiteren Erfolge der Operation haben, und wir hoffen auf weitere Erfolge", sagte Hagari: „Bis dahin müssen wir abwarten und geduldig sein."

Warum schaffen es so viele deutsche Journalisten nicht, geduldig zu sein?

Die Art und Weise, wie über das Al-Shifa-Krankenhaus berichtet wurde, ist kein Ausreißer. Sie zeigt das grundlegende Muster, dem große Teile der deutschen Berichterstattung zum Nahostkonflikt folgen und das sich in folgenden Punkten charakterisieren lässt:

Die Berichterstattung fokussiert auf Nachrichten, die Israels militärisches Vorgehen rechtfertigen, und weniger auf solche, die das Leid der zivilen Bevölkerung und mögliche Menschen- und Völkerrechtsverletzungen zeigen. Offizielle israelische Quellen und Aussagen sind deshalb die primäre Quelle von Nachrichten. Hamas-Aussagen werden dabei gerne zur Gegendarstellung zitiert. Das soll Objektivität suggerieren, es ist aber keine; denn die Hamas ist grundsätzlich keine gleichwertige Kriegspartei, sondern eine Terrororganisation. Glaubwürdiger wären die Gegendarstellungen von unabhängigen Organisationen vor Ort. Diese sorgen in der deutschen Berichterstattung zum Nahostkonflikt - im Gegensatz zu anderen Kriegen - aber nur selten für Schlagzeilen. Offizielle Darstellungen werden - im Gegensatz zu angloamerikanischen Medien - nicht eingeordnet, sondern einfach nur zitiert; auch dann, wenn die Ungereimtheiten offenkundig sind. Also im Falle von Al-Schifa die Diskrepanz zwischen dem, was versprochen wurde, und dem, was tatsächlich an Beweisen geliefert wurde. Israelische Regierungsvertreter sind nicht nur die primäre Quelle von Nachrichten, sondern sie werden auch selektiv zitiert. Israelische Aussagen, die dem Narrativ widersprechen, dass Israel Zivilisten verschont und allein die Hamas für das humanitäre Elend verantwortlich ist, werden tendenziell ausgespart. Statements, wie jene des IDF-Sprechers - „Unser Fokus liegt auf größtmöglichem Schaden, nicht auf Präzision" - oder jene des israelischen Verteidigungsministers - „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere. Und wir werden entsprechend handeln" -, sorgten beispielsweise im angloamerikanischen Raum, wie auch in israelischen Medien für Schlagzeilen, nicht aber in deutschen. Wenn solche Aussagen aufgegriffen werden, dann, um sie zu relativieren. Oder, wie es „die „Zeit"" vormacht, um Israels Regierung wie einen emotionalen Teenager wohlwollend väterlich zu ermahnen. Dort schreibt Heinrich Wefing in Bezug auf die erschreckende Aussage des Verteidigungsministers: „So naheliegend solche Drohungen in einer schwersttraumatisierten Gesellschaft sein mögen, sie können nicht der Maßstab für das israelische Vorgehen sein." „Eure Medien sind auch nicht besser als unsere"

Diese Einseitigkeit der Berichterstattung hat mich seit dem Beginn der israelischen Offensive gegen Gaza sehr beschäftigt. So sehr, dass ein Freund mir vor einigen Tagen die Frage stellte: „Warum geht dir das eigentlich so nahe? Der Nahostkonflikt ist doch nicht dein Thema?"

Der Autor

Teseo La Marca ist freier Journalist und widmet sich vor allem den Themen Migration und Islam. Seine Reportagen aus seinem Heimatland Italien und aus dem Iran sind unter anderem in NZZ, taz, Fluter, Dummy und Stern erschienen.

Das gab mir zu denken. Es stimmt, ich habe noch nie aus Gaza und Israel berichtet, ich habe noch nicht mal einen persönlichen Bezug. Ich berichte aber immer wieder aus Iran, über afghanische Geflüchtete, allgemein über Menschenrechtsverletzungen in der islamischen Welt, vor allem über jene im Namen des Islam.

Dann fiel mir ein Gespräch ein, das ich vor einem Jahr über Telegram mit einem iranischen Regimeanhänger führte. Es war der Höhepunkt der Proteste gegen die Mullah-Diktatur. In den sozialen Medien kursierten damals entsetzliche Videos, man sah, wie Regimekräfte Demonstranten mit Motorrädern überfuhren und auf sie schossen, wie sie junge Frauen mit Knüppeln niederschlugen, man sah Leichen von Demonstranten, die von den Geschossen völlig zersiebt waren. Ich wollte wissen, was diese Gewalt bei einem Regimeanhänger auslöste und sprach ihn darauf an.

Der Mann versuchte gar nicht erst, das islamische Herrschaftssystem zu verteidigen. Stattdessen argumentierte er kühl-rational mit Interessen der inneren Sicherheit, der politischen Stabilität. Die toten Demonstranten seien sozusagen ein „verhältnismäßiger Preis" dafür. Doch sein Hauptargument lautete: „Eure westlichen Regierungen gehen doch genauso gewalttätig mit Demonstranten um." Als Beleg zeigte er mir mehrere Videos von Polizeigewalt in westlichen Ländern. Und weiter: „Ihr westlichen Journalisten seid nur gut darin, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, wenn es nicht eure eigenen Regierungen sind, die sie begehen. Legt eure doppelten Standards ab, dann kann man euch ernstnehmen."

Die Kritik war mir bekannt, man hört solche Dinge oft, wenn man im Nahen Osten unterwegs ist. Und doch geriet ich über derart pauschale und voreingenommene Vorwürfe in Rage. Ich konterte mit dem Beispiel von Darnella Frazier, der Jugendlichen, die den Tod von George Floyd mitgefilmt hatte und dafür mit einem Pulitzer-Sonderpreis geehrt wurde. Währenddessen sitzen die zwei iranischen Journalistinnen, die als erste über den Tod Mahsa Aminis berichtet haben, im Iran noch immer im Gefängnis. Ist das nicht Beweis genug, dass die westliche Presse frei, dass sie unabhängig und objektiv ist?

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Trotzdem weiß ich jetzt nicht, was ich das nächste Mal antworten soll, wenn westlichen Journalisten „doppelte Standards" vorgeworfen werden. Denn ich sehe auch, dass Handlungen - insbesondere Kriegshandlungen - anders bewertet werden, wenn nur die Akteure anders heißen. Dass ziviles Leid unterschiedlich viel Aufmerksamkeit bekommt, je nachdem, wer dafür verantwortlich ist. Dass in der Ukraine noch von Genozid die Rede war, jetzt aber diejenigen unter Rechtfertigungsdruck stehen, die die Verhältnismäßigkeit der militärischen Antwort Israels angesichts von über 11.000 Toten und Hunderttausenden Vertriebenen infrage stellen. Dass Journalistinnen und Journalisten in diesem Krieg schließlich selbst zur Zielscheibe werden, sobald sie kritisch berichten.

Diese Einseitigkeit der Berichterstattung setzt die Glaubwürdigkeit der freien westlichen Presse aufs Spiel. Und sie setzt auch die Glaubwürdigkeit jener Reporter aufs Spiel, die aus den Krisengebieten dieser Welt berichten und dort unter hohem Risiko die Menschenrechtsverletzungen der Anderen benennen. Das, so antwortete ich meinem Freund, ist mein persönlicher Bezug. Es wäre ein irreparabler Schaden.

Es geht aber auch anders. Daran erinnerte vor kurzem der israelische Historiker Yuval Noah Harari:

„Israelis und Palästinenser versinken gerade im Schmerz, sie sind außerstande, das Leid der Anderen nachzuempfinden oder anzuerkennen. Aber von Außenstehenden, wie etwa Deutschen, erwarte ich: Seid nicht denkfaul. Seid nicht emotional faul. Schaut nicht nur auf die eine Seite dieser schrecklichen Realität."

Eine Mahnung, die für alle gilt. Vor allem aber für Journalistinnen und Journalisten.

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