Die Region Marken zwischen Apennin und Adria vereint vieles, was Italien so liebenswert macht: Sie bietet Sandstrände, Berge, mittelalterliche Dörfer, Kultur und gutes Essen. Trotz dieser Vielfalt ist sie den meisten Touristen - und Italienern - kaum bekannt. Zum Glück.
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an" stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.
Frisch aus dem Ofen, erfüllen die knusprigen Brotscheiben die milde Nachtluft auf der Piazza mit ihrem Aroma. Belegt sind die handtellergroßen Snacks mit dem Weichkäse Stracchino, mit einer Salami namens Ciauscolo und mit Friarelli, das ist ein delikater Stängelkohl. Es gibt aber auch die Option mit Trüffeln aus den Bergen des Apennin. Zu den Crostoni, wie hier die deftige Variante der Bruschetta heißt, wird ein Glas kräftiger Rotwein aus den Abruzzen serviert.
Crostoni? Ciauscolo? Dass die Gäste viele seiner Zutaten und Gerichte nicht kennen, ist der Wirt Marco Romans in seinem kleinen Restaurant „Fleurie" im mittelalterlichen Dorf Grottammare gewohnt. „Es sind die Italiener selbst, diejenigen, die aus anderen Regionen stammen, die mich immer wieder fragen, was es mit diesen Produktnamen auf sich hat", erzählt Marco Romans. Denn sogar unter seinen Landsleuten ist die Region kaum bekannt.
Die Marken sind gewissermaßen die Wade des italienischen Stiefels. Gelegen an der Adria und angrenzend an die Regionen Emilia-Romagna, Abruzzen, Toskana, Umbrien, Latium sowie an die Republik San Marino, sind die Marken so etwas wie das bestgehütete Geheimnis Mittelitaliens. Während die Strände in den anderen Regionen überfüllt sind, präsentiert sich hier ein geradezu unentdeckter Landstrich, weit ab von den Rennstrecken zwischen Mailand und Rom. Was für ein Glück für diejenigen, die den Weg hierher finden.
Kommt man vom Meer, liegt Grottammare auf der ersten Anhöhe, bevor das Hügelland beginnt, mit Weinreben und Sonnenblumenfeldern, mit Mittelmeerzypressen und gelegentlich einem hoch gelegenen mittelalterlichen Dorf. Gen Westen türmt sich irgendwann ein Hügel auf den anderen, bis aus den Erhebungen schroffe Berggipfel werden, die bis weit in den Sommer hinein Schneehauben tragen: die Monti Sibillini. Und das alles, vom Meer bis zum alpinen Apenningebirge, spielt sich innerhalb von 40 Kilometer Luftlinie ab.
Die Marken sind ein Destillat von Italien„Wenn man beschreiben wollte, welche italienische Landschaft am typischsten ist, müsste man die Marken nennen", schrieb der italienische Reiseschriftsteller Guido Piovene einmal über die Marken. Sie seien ein „Destillat Italiens".
Die Region vereint ja auch wie keine andere das Meer mit Hügeln und Berggipfeln, Wein mit Kultur, die Effizienz des Nordens mit der Lässigkeit des Südens. Und vielleicht genau deshalb führt sie ein Dasein als Mauerblümchen: Sie hat alles und steht deshalb für nichts Bestimmtes.
Die „ New York Times" fragte einmal nicht zu Unrecht: „Sind die Marken die nächste Toskana?" Seitdem sind zwar fast 20 Jahre vergangen, doch die Marken bleiben ein Geheimtipp. Zwar brachen die Besucherströme im Jahr 2022 vorherige Rekorde, doch mit rund zwei Millionen nehmen sich die Ankünfte in den Marken gegenüber den 14 Millionen Ankünften in der benachbarten Toskana geradezu mickrig aus.
Was der Region folglich - und zum Glück - fehlt, sind Busse mit Tagestouristen, die Schlangen vor den Museen, und die Mühsal, die authentische Trattoria von der Touristenfalle zu unterscheiden. Der Tourismus in den Marken bringt offenbar gerade so viel ein, dass sich der Erhalt der Kulturstätten finanzieren lässt, aber nicht so viel, dass Müll, Staus und Menschenmassen zum Problem werden.
In den mittelalterlichen Ortschaften (auf Italienisch: borghi) wie Grottammare merkt man das sofort. Die Kopfsteingassen sind sauber gefegt, die Fassaden der alten Häuser gepflegt. Und im Sommer gibt es sogar einen Gratisshuttle zum Strand.
Wobei es sich lohnt, die Wegstrecke zu Fuß zurückzulegen. Der kürzeste Weg von der Ebene bis zum Dorf führt über das Innere eines der alten Wehrtürme, die im 16. Jahrhundert zum Schutz vor Piratenangriffen errichtet wurden. Die Treppen winden sich mühselig und scheinbar endlos nach oben.
Wer sie erklimmt, wird durch eine spektakuläre Aussicht auf die darunterliegenden Ortschaften und die kilometerlangen Strände der Adria belohnt. Nicht ohne Grund wurde Grottammare 2021 zu den schönsten Borghi Italiens gewählt.
Jugendstil und Ritterspiele in Ascoli PicenoEinzelne Besucher, die den Charme der Marken zu schätzen wussten, gab es zu allen Zeiten. In Ascoli Piceno, einer bedeutenden Stadt des Mittelalters, die an der Nahtstelle zwischen Hügel- und Bergland liegt, wird man überrascht sein, welche Persönlichkeiten im „Caffè Meletti" schon Station gemacht haben. Das Philosophenpaar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre hat hier, auf der zentralen Piazza del Popolo, Aperitif genossen, und natürlich Ernest Hemingway, der seine Unterschrift sowieso im Gästebuch jedes schönen europäischen Cafés in Europa hinterlassen hat.
Wer selbst im Café einkehrt, um zum Aperitif eine Anisetta zu trinken - den traditionellen süßen Gewürzlikör, den der Ascolaner Silvio Meletti schon 1870, lange von der Eröffnung des Cafés, entwickelte -, fühlt sich um mindestens 100 Jahre in der Zeit zurückversetzt. Unter einer hohen Stuckdecke sitzt man inmitten des bernsteinfarbenen Jugendstilmobiliars auf alten Bugholzstühlen mit Wiener Geflecht.
Das Gefühl, in einer ganz anderen Zeit angekommen zu sein, gehört zu Ascoli Piceno wie der poröse Kalkstein Travertin, aus dem fast alle Gebäude hier bestehen. In dieser mittelgroßen Stadt mit kaum 50.000 Einwohnern macht der historische Kern noch fast das gesamte Stadtgebiet aus. Die Fassaden aus dem Mittelalter und der Renaissance machen den Stadtbummel herrlich pittoresk. Doch zugegeben: Das gibt es auch anderswo in Italien.
Was die Zeitreise in Ascoli Piceno täuschend echt macht, sind eigentümliche, zugleich spannende Großevents wie die jährliche „Quintana" mit ihren Ritterturnieren. Sie findet fünf Wochen im Hochsommer statt. Dann bevölkern Hundertschaften aus Fanfarenbläsern und Hofnarren, Fahnenschwingern und herausgeputzten Hofdamen, Bogenschützen und Reitern die zentralen Plätze der Stadt. 1500 Einwohner spielen mit. Neben prächtigen Umzügen stehen die Pferderennen und die Wettbewerbe der Bogenschützen und Lanzenstecher im Mittelpunkt des Festes.
Diese Turniertradition geht auf das neunte Jahrhundert zurück, als die von der Arabischen Halbinsel stammenden Sarazenen dieses Gebiet überfielen und plünderten. Der Schock saß den Ascolanern auch später noch tief in den Knochen. Damit die Reiter auf künftige Invasoren besser vorbereitet seien, riefen die lokalen Herrscher verschiedene Turniere ins Leben.
Das erklärt auch, warum die Attrappe, die die Reiter mit ihrer Lanze an der richtigen Stelle treffen müssen, geradezu klischeehaft arabisch aussieht. Die Augen sind mit schwarzem Kajal umrandet, dazu trägt die überlebensgroße Puppe einen Turban, Ohrringe und eine Halskette in Form eines Halbmondes.
Seit dem Mittelalter kaum verändertNach einer Pause von fast vier Jahrhunderten wurden die Ritterspiele der Quintana in der Euphorie des Wirtschaftswunders im Jahr 1955 wiederbelebt. Doch im Gegensatz zu anderen Historienspielen wurde die Quintana beim Neustart mit einer Feierlichkeit und einem Ernst begangen, als wäre sie nie ausgesetzt worden. Heute ist sie in der Stadt nicht mehr wegzudenken. „Für die Ascolaner sind die Turniere kein Spiel, sondern schon lange ein unersetzlicher Teil ihrer Identität", sagt Guido Spurio, der an der Organisation der Ritterspiele beteiligt ist.
Grund dafür ist wahrscheinlich ein Charakterzug der Stadtbewohner, der sich tatsächlich seit dem Mittelalter kaum verändert haben dürfte: Es ist die tiefsitzende erbitterte Rivalität zwischen den einzelnen Stadtvierteln, den sogenannten „Sestieri", die während der Ritterspiele, genauso wie vor 500 Jahren, gegeneinander antreten. „Vereint waren wir immer nur gegen äußere Feinde", erzählt Guido Spurio, „aber innerhalb der Sestieri und der Familien gibt es unüberwindbare Rivalitäten."
Diese Verbundenheit zum eigenen Viertel sei in Ascoli Piceno mit der Anhängerschaft zu einem Fußballklub vergleichbar, erzählt Spurio, und das durchaus mit allen Folgeerscheinungen. Auch die Quintana habe ihre „Hooligans" - Fans, die bis zum Äußersten gehen, um das eigene Sestiere zu unterstützen. Im Jahr 2007 musste die Preisverleihung nach Raufereien ausgesetzt werden.
„Ein bisschen mittelalterlich" nennen andere Italiener augenzwinkernd auch die Marchigiani, so heißen die Einwohner der Marken. Bei Menschen klingt das Adjektiv im Normalfall deutlich weniger schmeichelhaft als bei Gebäuden oder lokalen Bräuchen.
Und doch ist es bei den hier Heimischen anders gemeint. Es geht um das Langsame und Gemächliche, die Lust an menschlichen Begegnungen und dem Austauschen von Anekdoten, die den Marchigiani eigen ist. Zugleich sind sie als ein bescheidener, bodenständiger Menschenschlag bekannt. Allesamt Eigenschaften, die sehr hilfreich sind, wenn es darum geht, Besucher willkommen zu heißen und sie am eigenen Leben teilhaben zu lassen.
Musik in den Gassen von GrottammareMarco Romans, der junge Gastwirt in Grottammare, erzählt beispielsweise von seiner Ambition, Musiker zu werden. Dann aber sei vor einigen Monaten ein Freund an ihn herangetreten: Ob sie nicht zusammen ein Restaurant aufmachen wollten? Gesagt, getan. Es klingt nach einer Geschichte von typisch italienischer Leichtigkeit.
Mittlerweile hat Romans festgestellt, dass sich seine musikalische Leidenschaft und der gastronomische Brotjob gut verbinden lassen. Noch spätabends serviert Marco Romans Spezialitäten und gute Weine aus der Region. Die Gäste lieben es, wenn er sich anschließend an sein Keyboard setzt und zum musikalischen Abschluss des Abends die neoklassischen Stücke von Ludovico Einaudi spielt.
Wenn nur noch wenige Gäste da sind, dürfen sie Marco Romans sogar bitten, ihre Lieblingslieder zu spielen. Nur bei Schlagern von Al Bano oder Toto Cutugno lehne er ab, sagt der musikalische Gastwirt. Das werde ihm dann doch zu kitschig. Und Italien-Klischees, so viel ist nach einer Entdeckungsreise durch die unentdeckten Marken klar, begegnet man hier glücklicherweise nicht.
Der Ort scheint jedenfalls Musiker schon lange zu inspirieren. Im Sommer 1868 verbrachte der ungarisch-österreichische Pianist Franz Liszt sechs Wochen in Grottammare. Er spielte täglich auf der Orgel, die noch heute im barocken Kirchlein an der Piazza steht. In einem Brief an einen Freund pries Liszt das milde Klima, das Blau des Meeres und die grünen Wogen des Hügellands.
Seine Zeit in den Marken beschrieb er als eine der „schönsten und süßesten Erinnerungen in meinem Leben".
Tipps und Informationen:Anreise: Mit dem Auto über den Brennerpass. Mit der Bahn oder dem Flugzeug, etwa mit Lufthansa oder Ryanair nach Bologna, Weiterreise mit dem Mietwagen oder Regionalzügen. Zugtickets gibt es bei Trenitalia ( italiatren.com/de).
Unterkunft: Grottammare: „La Torretta sul Borgo", privat geführtes Bed & Breakfast in einem Stadthaus aus dem 17. Jahrhundert, Doppelzimmer mit Frühstück ab 55 Euro ( latorrettasulborgo.it).
Ascoli Piceno: „Palazzo dei Mercanti", stilvolles Hotel in einem ehemaligen Kloster, Doppelzimmer mit Frühstück ab 89 Euro ( palazzodeimercanti.it).
Um das Hügelland kennenzulernen, empfiehlt sich ein Aufenthalt in einem der zahlreichen „Agriturismi", Ferienbauernhöfe, zum Beispiel dem „Agriturismo Oasi Biologica" nahe dem mittelalterlichen Dorf Montedinove, Doppelzimmer ab 90 Euro ( oasibiologica.it).
Historienspiele: Die fünfwöchigen Ritterspiele der „Quintana" in Ascoli Piceno finden jedes Jahr im Juli und August statt. In diesem Sommer enden sie am 6. August mit dem Highlight: der Versammlung aller 1500 Teilnehmer in ihren Kostümen, dem historischen Umzug durch die Stadt und dem Lanzenstechen zu Ehren des Schutzheiligen Emidio ( quintanadiascoli.it).
Weitere Infos: turismo.marche.it; italia.it