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torial Blog | Redaktionskonferenz bei Wikipedia: Leitlinien, Quellenkritik und Stilvorgaben

Wikipedia ist längst kein unkoordinierter Haufen von Laien mehr. Locker organisierte, thematische Redaktionen achten auf inhaltliche Qualität und Vollständigkeit. Ein Einblick in die Arbeit drei ehrenamtlicher Wikipedia-Redaktionen: was machen sie, wer ist dort aktiv, und was motiviert die Beteiligten?


Dass hinter Wikipedia keine klassisch-professionelle Redaktion mit bezahlten Stellen und penibel geregelten Prozessen steht, dürfte mittlerweile jedes Kind wissen. Weniger bekannt ist, dass es dann aber doch in Teilen vergleichbare Strukturen gibt. Mehr als 30 mehr oder weniger aktive Redaktionen existieren in der deutschsprachigen Wikipedia, etwa zu Medizin, zu Recht, zu Religion, Sexualität oder Film und Fernsehen.

Diese sind zumindest insofern professionell, als dort oft Angehörige des jeweiligen Fachs tätig sind: berufstätige oder angehende Jurist*innen in der Redaktion Recht und Ärzt*innen in der Redaktion Medizin verfassen und redigieren Artikel. Sie diskutieren Konflikte und Fragestellungen des jeweiligen Fachs und stellen spezifische Regelwerke für ihre jeweiligen "Ressorts" auf.


Redaktion Medizin: erwünschte und unerwünschte Quellen 

Die Redaktion hat unter anderem Leitlinien für Artikel aus dem Themenbereich Medizin erarbeitet, die, wie es heißt, "nach intensivem Meinungsaustausch beschlossen" wurden. Die legen beispielsweise fest, was "erwünschte" und was "unerwünschte Quellen" sind. Zu den ersteren zählen unter anderem Lehrbücher und Überblicksarbeiten aus medizinischen Fachzeitschriften. Als "unerwünscht" gelten Inhalte aus Wissenschafts-Journalen ohne das übliche Peer-Review-Verfahren, aber auch Pressemitteilungen von Krankenhäusern, Webseiten von Selbsthilfegruppen und kommerzielle Gesundheitsportale. Auf einer Unterseite zur Qualitätssicherung wird über "dringend überarbeitungswürdige", fachlich falsche oder redundante Artikel diskutiert.

In der Liste der Redaktion: Medizin sind 23 regelmäßige Mitarbeitende genannt. 19 von ihnen geben an, dass sie einem medizinischen oder pharmazeutischem Beruf nachgehen. Sie stammen aus den Bereichen Zahnmedizin, aber auch Gynäkologie, Sportmedizin oder Neurologie. Zwei Tierärzte stehen in der Redaktions-Liste und zwei Apotheker. Einmal pro Jahr gibt es Treffen an wechselnden Orten.


Redaktion Geschichte: Propaganda-Wörter und problematische Historien-Bilder 

Knapp 60 beteiligte Leute mit ihren jeweiligen Schwerpunkten werden in einer Liste der Redaktion:Geschichte genannt. Einer interessiert sich explizit für griechisch-römische Antike, andere für die deutsche Historie ab 1871 oder auch für Bahngeschichte. Zur Orientierung für Neulinge gibt es fachspezifische Richtlinien mit "Konventionen, Anregungen und Empfehlungen". Die schreiben etwa vor, dass sich beim Schreiben an Begriffen der Geschichtswissenschaft orientiert werden sollte. Vorsicht soll bei der Verwendung von Propaganda-Wörtern wie etwa dem euphemistischen "Schutzhaft"-Terminus der Nazis gelten. Und bei Einbettung von Historienbildern sollte bedacht werden, dass diese nicht unbedingt eine realitätsnahe Darstellung historischer Verhältnisse darstellen.

Die Arbeit im Bereich Geschichte geschehe eher individuell, erzählt Redaktionsmitglied Ziko van Dijk, weswegen er vom Begriff "Redaktion" auch nicht ganz überzeugt ist. "Es ist eher ein schwarzes Brett oder eine thematische Diskussionsseite." Die eigentliche "redaktionelle Arbeit" im Sinne einer Kuratierung von Inhalten finde in der Regel auf Einzelebene statt. Von realweltlichen Treffen wie bei anderen Redaktionen sei ihm nichts bekannt. Es habe mal Skype-Konferenzen gegeben, aber die sind seit langem eingeschlafen. Möglicherweise liege das an der Spezifika des Fachs, glaubt van Dijk: "Historiker arbeiten ja auch sonst oft allein." Der promovierte Historiker hat seit 2003 etwa 200 deutschsprachige Artikel angelegt, zudem noch einige Dutzende in der englischen, niederländischen und Esperanto-Sprachausgabe. Vor zwei Jahren hatte er das "Projekt 48″ ins Leben gerufen und 48 Artikel zur deutschen Revolution 1848/1849 verfasst oder schon existierende verbessert.


Redaktion Recht: juristische Präzision und Laien-Verständlichkeit 

Zwölf Leute werden als Ansprechpartner in der juristischen Redaktion genannt. Einer von ihnen ist der Doktorand Lukas Mezger alias Gnom, der kurz vor dem Abschluss einer juristischen Dissertation an der Uni Kiel steht. Er sieht die Redaktion als losen Zusammenschluss, der die Arbeit im Themenbereich koordiniert und Anlaufstelle für Fragen zu juristischen Wikipedia-Einträgen sein will. Diskutiert werden unter anderem Zitierregeln für Gesetze oder Fragen des Rechtsvergleichs. Teilweise tausche sich die Redaktion über die Wikipedia-internen Nachrichtensysteme aus, teilweise per Mail oder Telefon. Und immer wieder gebe es auch Treffen auf allgemeinen Veranstaltungen der Wikipedia-Community.

Für die Artikel gelten natürlich die üblichen Wikipedia-Regeln, erzählt Mezger, bei juristischen Einträgen ergeben sich aber daraus aber mitunter spezielle Probleme: "Bei den Relevanzkriterien ist das zum Beispiel die Frage, ab wann ein Wort einen echten Rechtsbegriff darstellt, den man wissenschaftlich definieren kann." Bei der Umsetzung des Prinzips Verständlichkeit müsse zum einen auf eine präzise Nutzung der juristischen Fachsprache geachtet werden, zum anderen sollte die Texte aber für Laien verständlich bleiben. Wer sich an Wikipedia beteiligte, habe eine enorme Verantwortung, meint Mezger: "Fast jeder verwendet heutzutage Wikipedia, angefangen vom Laien, der eine Rechtsfrage klären wollen, bis zum Richter am Oberlandesgericht, der ein Argument oder eine Definition für ein Urteil überprüfen möchte." Er schätzt, dass er bisher an mehreren hunderten Artikeln beteiligt war, etwa an einem Text über die umstrittenen Gefahrengebiete im Polizeirecht.

Motivation: die "Hausaufgaben der Menschheit" Seitdem er 2005 seinen ersten Eintrag für Wikipedia erstellt hatte, habe ihn der "Wikipedia-Virus" nicht mehr losgelassen. Es sei einfach unheimlich spannend und inspirierend, mit so vielen schlauen und interessierten Leuten zusammenzuarbeiten. Die hauptsächliche Motiviation mitzumachen, sei sicherlich der Gedanke, etwas gutes zu tun und durch das Zugänglichmachen von Wissen als Wikipedianer "die Hausaufgaben der Menschheit" zu machen.

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