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Reportage

Supertalent in den besten Jahren

Porträt Freddy Sahin Scholl

 

Er hat viel erlebt und viel zu erzählen: Freddy Sahin Scholl. Zuerst hatte er 25 Jahre als Krankenpfleger gearbeitet. Dann besann er sich auf sein künstlerisches Können, wurde Entertainer und trat vor erlesenem Publikum auf. Schließlich meldete er sich bei der RTL-Fernseh-Show und wurde das „Supertalent“. Ein Riesenerfolg! Als er dem Massenpublikum bekannt war, folgten zahlreiche Auftritte. Das Show-Business um ihn ist weiterhin vielseitig; er steht fast täglich auf der Bühne. Unlängst feierte Freddy Sahin Scholl seinen 60. Geburtstag. Er ist im besten Sinne ein Best-Ager: Mit dem Blick der Erfahrung lebt er Gegenwart und Zukunft.

 

Klickt man im Internet nach Freddy Sahin Scholls Supertalent-Auftritten, dann muss man sich mehrmals durch Werbespots von Coca Cola oder McDonald’s hindurch gedulden. Das ist insofern lustig, weil der mediale Konsumrummel so überhaupt gar nicht die Welt des Künstlers Freddy Sahin Scholl ist. Der sympathische Mann mit dem dunklen Teint und dem großen, gutmütigen Gesicht, der 2010 das TV-Publikum als Quotenbringer alias „RTL-Supertalent“ begeisterte, hat selbst keinen Fernseher. Vor etwa einem Jahr sind die „Sahins“ – so der Familienname – aus der Nordweststadt Karlsruhe nach Eggenstein gezogen, nicht zuletzt weil es dort etwas ruhiger zugeht.

Als Musiker ist Freddy Sahin Scholl bekannt für seinen außergewöhnlichen Gesang, der sich sowohl wunderschön und sehr klar in hoher Kopfstimmlage bewegen kann als auch in den mittleren Tiefen eines gestützten Baritons. Da singen zwei verschiedene Stimmen in ein und demselben Menschen. Hat man die eine Stimme gehört, ist man verblüfft und ergriffen, dass die andere Stimme dann so anders klingt... Das ist sein Markenzeichen. Freddy Sahin Scholl, der „Mann mit den zwei Stimmen“, wie der Buchtitel seiner Biografie aus dem Irisiana Verlag lautet, ist aber auch anders, als es das Fernsehen und die etwas hysterische Aufregung um vermeintlich großartige Supertalent-Karrieren vielleicht haben vermuten lassen. Freddy Sahin Scholl ist ein überlegter und bedächtiger Künstler. Insbesondere im Anschluss an die Supertalent-Erfolge ist er nichts übereilt angegangen.


Das wäre höchstwahrscheinlich anders verlaufen, wenn er jene Erfolge als „Jungspund“ gehabt hätte. Die Verlockungen wären da gewesen. So wünschte sich etwa ein Plattenlabel, dass er möglichst schnell ein neues Album produzieren sollte, solange sein Name durch den Medienhype noch heiß in aller Munde sei. Der damals „Mitte-50er“ erhielt entsprechende Vertragsangebote und – sagte ab. Er überschaute die Lage mit der Gelassenheit des Erfahrenen.


Sein erstes selbst produziertes Album hatte eine lange Anlaufzeit von über zehn Jahren. „Ich will langlebige Musik machen und das braucht seine Entstehungszeit“, sagt er. Auf das neue Album wolle er zwar nicht unbedingt wieder zehn Jahre warten, aber es müsse eben reifen. Außerdem will Freddy das „zweite Opus“, wo ein großes begleitendes Orchester mit musizieren wird, erneut in Eigenregie produzieren und muss es deshalb auch selbst finanzieren. „Zu alledem möchte ich es mir nicht zumuten, dass andere, die dann natürlich auch das Recht dazu hätten, mir in meine Kunst hineinreden.“


Freddy Sahin Scholl ist in dieser Hinsicht natürlich eigenwillig. Das gehört dazu. Sonst wäre er nicht das geworden, was er heute ist. Als Autodidakt hat er das Singen in jenem „Hoch-Tief-Wechsel“ trainiert und beide Teile seiner Stimme sind über Jahre hinweg sehr schön ausgestaltet, gestärkt und gut geübt. Das hört man. Wer weiß: Hätte Freddy als junger Mann eine Musikhochschule besucht, hätte man ihm dieses eigenwillige Singen womöglich abtrainiert oder er hätte innerhalb einer professionellen, akademischen Ausbildung ganz andere, wahrscheinlich viel konventionellere Wege eingeschlagen. Letzten Endes ist es allerdings müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn sein Werdegang, sein Leben und sein künstlerischer Ausdruck sind so ziemlich eng miteinander verschmolzen, dass man da nicht trennen kann.

„In meinen Songs habe ich Lebenserfahrungen in Musik gesetzt“, sagt er. Bereits als 17-Jähriger etwa hatte Freddy Sahin Scholl im Krankenhaus gearbeitet; insgesamt 25 Jahre lang. „Wenn man bereits als junger Mensch so intensiv mit Krankheit und Tod in Berührung kommt, dann hat man eine andere Sicht der Dinge.“ Aus diesem Grund wirken seine Songs wie „Carpe Diem“ oder „A Love Eternal“ glaubwürdig und aufrichtig. Zwar ist sein Hang zur gerne auch dick aufgetragenen Theatralik à la Filmmusik offensichtlich. Aber trotzdem: Seine Gefühle in schwelgender Melodie und Harmonie wirken echt. „Das muss auch unbedingt so sein, sonst würde der gesangliche Wechsel, das ‚Duett mit mir selbst‘ irgendwann beim Hörer zu einer Ulknummer werden.“ Wobei: Auch die komischen Momente, die seine Art zu singen zweifelsohne ebenfalls hat, sind mitunter sehr schlau und einfühlsam in die Kompositionen einbezogen. Wer sich auf die Musik einlässt, kann auch beim wiederholten Hören Entdeckungen machen. Seine Musik sei langlebig, sagt Freddy alias Galileo – so lautet sein eigentlicher Künstlername, unter dem er mit seinem Kompositionen auftritt. Klar, die Fans würden es begrüßen, wenn er jedes Jahr eine neue Platte machen würde. Aber so ein zweites Opus müsse, wie gesagt, reifen. Als Supertalent in den besten Jahren bleibt er gelassen.


Aus diesem Blickwinkel sieht er auf sich. Und auf seine Familie. Denn Freddy, geborener Scholl, wäre nichts oder zumindest weniger oder aber jemand anderes ohne seine Frau Jasmin Sahin. Will man über ihn etwas wissen, tut man gut daran, sie zu fragen – und umgekehrt. Denn Jasmin Sahin kommt aus der Entertainment-Branche als Event-, Kunst- und Künstler-Vermittlerin. Über ihre Agentur und ihr Engagement für die UNESON – eine gemeinnützige Gesellschaft, die weltweit Schulen, Bildungs- und Kultur-Projekte fördert – haben sie sich 2004 kennen gelernt und geheiratet. „Das war 2006“, sagt sie und er korrigiert: „Nein, das war 2007.“ Das Hochzeitsdatum spielt bei den beiden unverkennbar eine untergeordnete Rolle. Obwohl bei ihnen die amtliche Eheschließung zweifelsfrei zum Zusammensein dazugehört, hat ihre Ehe ein irgendwie leichter gestaltetes Gewicht. „Wir tragen keine Eheringe“, sagt sie und er zeigt seine Hände.


Die Sahins sind eine Patchwork-Familie. Zwei ältere Kinder hat Jasmin in die Ehe gebracht und aus der Ehe selbst sind noch zwei weitere Kinder hervorgegangen: Nathan, zweieinhalb Jahre alt, kommt neugierig ins Zimmer, zeigt ein großes Papprohr her und erklärt, dass man da kleine Autos durchrollen lassen kann. Der 7-jährige Aurelius kommt hinzu, schmunzelt ein bisschen über den kleinen Bruder, grüßt und weiß sofort, dass Papa gerade ein Interview gibt. Sowas kennt er wohl schon aus vielen anderen Situationen. Viele der Reisen für die zahlreichen Konzerte unmittelbar nach dem Supertalent-Sieg ist die Familie gemeinsam angetreten. Jasmin war da mit dem kleinen Nathan schwanger und für Aurelius sprang ab und an eine Betreuerin ein. Aus erster Ehe hat Freddy zudem eine erwachsene Tochter, von der er wiederum zwei Enkelkinder hat. Und während sich das Interview um die Vielseitigkeit der Sahin-Scholl-Patchwork-Familie dreht, informiert Nathan seinen Papa, dass er noch sehr viele kleine Autos habe, die man durch seinen Papprohrtunnel schicken könnte. Doch das Interview hat jetzt Vorrang. Kinder spielen eine wesentliche Rolle in dieser Ehe – nicht nur die eigenen Kinder. Der große Friedensmantel, das Hauptprojekt der UNESON, ist dafür ein Sinnbild. Kinder aus aller Welt bemalen bei unterschiedlichen Projekten ein quadratisches Stoffteil mit Bildern, die ihre persönlichen Wünsche nach Frieden wiedergeben. Die Stoffteile werden zusammengeflickt zu einem riesengroßen, auf einem Fußballfeld ausgebreiteten Mantel, der die Friedenswünsche jedem einzelnen Kind beeindruckend sichtbar vor Augen führt: Du bist nicht allein. Es gibt andere, die ähnlich oder gleich denken wie Du. Mit anderen zusammen kannst Du zu überwältigender Größe wachsen…


Vor über zehn Jahren ist dieses Projekt entstanden, als Jasmin Sahin in Karlsruhe 2002 die Kinderbetreuung rund um ein St. Martinsfest zu organisieren hatte. Parallel zur Kinderbetreuung erhielt jedes Kind für einen symbolischen Euro ein Stück roten Stoff, der von Jasmins Mutter in einem Nebenraum zu einem Martinsmantel zusammengenäht wurde. Dieser Mantel sollte eigentlich dem Martin auf seinen Umzug mitgegeben werden, was zeitlich aber schief lief. Der Umzug war schon gestartet und der Martin war schon fortgeritten. Eine große Enttäuschung für die Kinder. „Dann hat ein 3-jähriges Mädchen gesagt, man könnte den Mantel doch einfach weiterwachsen lassen“, erinnert sich Jasmin Sahin: „Das Mädchen hat gesagt ‚Komm zu uns in den Kindergarten‘, was wir dann auch gemacht haben.“ Der Mantel wuchs nochmals zwölf Monate für nächste St- Martinfest, wurde 12 Meter lang und in Durlach an der Karlsburg gezeigt. „Das war wunderschön und hatte Energie“, schwärmt Jasmin Sahin, die schließlich aus dieser Idee mit fachlicher Unterstützung von Karlsruher Uni-Dozenten ein Konzept in Sachen Soziales Unternehmertum entwickelte. Der Martinsmantel wurde in einen „konfessionsfreien“ Friedensmantel umbenannt, damit sein Symbol weltweit in allen Kulturen und Religionen verstanden wird. Anfangs mit Schwierigkeiten verbunden haben die UNESON gGmbH und der Friedensmantel viel bewirken können. Kürzlich erst konnte aus UNESO-Mitteln ein Schuldach in Nepal saniert werden. Manche Kinder der ersten Stunde sind heute noch dabei und als UNESON-Botschafter unterwegs. „Wir haben über die Dynamik gestaunt, die das Projekt genommen hat“, sagt Freddy Sahin Scholl: „Es spricht sich herum. Wir machen gar nicht groß Werbung dafür und haben trotzdem immer wieder Anfragen.“ Zurzeit liegt der Friedensmantel in Rüppurr zusammengerollt in einer Halle.


Über die UNESON haben sich Jasmin und Freddy auch kennengelernt. Sie hatte ihn engagiert als Künstler „Galileo“ für die gute Sache. Er war vom Projekt angetan, komponierte das UNESON-Lied „All the children oft the world“ und nach dieser musikalischen Leibeserklärung hatte es sehr rasch „gefunkt“ zwischen den beiden. Dass er sich von Bekannten überreden und begeistern ließ, beim Supertalent mitzumachen, kam erst lange danach. Da war die relativ spät geschlossene Ehe schon sehr gefestigt.


Außer der Arbeit bei UNESON – also der Hingabe, Kinder in ihrer Welterfahrung zu unterstützen – verbindet die beiden auch, dass sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend persönlich die unschöne Bekanntschaft mit Diskriminierung machen mussten. Zumindest lernten sie schon in jungen Jahren, was es heißt, wenn andere denken, dass man „anders“ sei. Das Ehepaar weiß in dieser Hinsicht viel über die Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der westdeutschen Bundesrepublik zu berichten.

Jasmins Vater ist persisch und er kam als Flüchtling aus dem Iran über Umwege nach Deutschland. Jasmins Mutter war aus Istanbul nach Deutschland gekommen, um als Lehrerin türkische Kinder zu unterrichten. Weil der Vater Analphabet war und Sprachunterricht besuchte, lernten die zwei sich kennen. Doch die Partnerschaft hielt nicht lange. Man trennte sich. Jasmin wuchs deshalb zunächst bei ihrer Tante in Istanbul auf und kam mit 7 Jahren nach Deutschland und wurde in Heilbronn groß. Auf der Schule musste sie sich durchbeißen mit all den typischen Problemen, die die „Ausländerkinder“ damals hatten. „Wenn ich heute in die Schulen komme, stoße ich immer noch oft auf die gleichen Probleme.“ Meist betreffen sie die Sprache.

Ihre Grundschullehrerin damals war Hamburgerin. Das hört man heute insofern hindurch, dass Jasmin Sahin vollkommen akzentfreies Hochdeutsch spricht. Anders als Freddy, der im schwäbischen Wüstenrot aufwuchs und seine leicht schwäbische Dialektfärbung nicht leugnen kann.


„Ich bin ein Besatzungskind, so hat man damals gesagt. Mein Vater, den ich nie kennengelernt habe, war GI.“ In den Nachkriegsjahren hielt man nicht allzu viel von den „Brown Babies“. Nur dank der resoluten Gemeindeschwester Hanni hatte Freddy den Weg zur Musik gefunden.


Schon im Schnelldurchlauf der Biografien offenbart sich bei den Sahins so viel Interessantes, dass einem das „TV-Supertalent“ lediglich als eine etwas bedeutsamere Episode im bewegten Leben erscheint – viel mehr ist es aber auch nicht. Mag das Fernsehen seine Stars inszenieren. Das ist o.k. und das Show-Business lebt nun mal davon. Doch den ganzheitlichen, interessanten Freddy Sahin Scholl (alias Galileo) wird das Medium Fernsehen ohnehin nie wiedergeben können: Weder den Menschen, noch den Künstler. Übrigens: die neue CD soll tatsächlich dieses Jahr noch auf den markt kommen!